Die verlorene Kindheit – Deutschlands Abstieg im internationalen Vergleich der Kinderwohlfahrt

VonRainer Hofmann

August 20, 2025

Es ist ein bedrückendes Bild, das der UNICEF-Bericht Innocenti Report Card 19 zeichnet – ein Bild, das die Kinder in Deutschland weit entfernt von jener sorglosen Geborgenheit zeigt, die das öffentliche Selbstbild noch immer suggeriert. In einer Welt, die durch Pandemie, Klimakrise und gesellschaftliche Umbrüche ins Wanken geraten ist, hat sich die Lage der Jüngsten in vielen reichen Ländern verschlechtert. Doch während Staaten wie die Niederlande, Dänemark oder Frankreich inmitten der Turbulenzen Kurs halten konnten, ist Deutschland abgerutscht – auf einen alarmierenden Platz 25 von 43 untersuchten Ländern.

Der Bericht misst Kinderwohlfahrt anhand dreier Dimensionen: psychische Gesundheit, körperliche Gesundheit und grundlegende Fähigkeiten. In keinem dieser Bereiche schneidet Deutschland besonders gut ab. Am deutlichsten ist der Rückstand im Bereich Skills, also der schulischen und sozialen Kompetenzen: Hier landet Deutschland auf einem bitteren Platz 34 – nur noch neun Länder liegen dahinter. Während etwa Irland (Platz 1) oder Slowenien (Platz 2) zeigen, wie gezielte Bildungs- und Sozialpolitik wirken kann, scheint Deutschland nicht einmal mehr Anschluss zu finden. Im Bereich der körperlichen Gesundheit erreicht Deutschland immerhin Rang 14 – besser als der Durchschnitt, aber weit entfernt von Frankreich (Platz 2), der Schweiz (Platz 7) oder Portugal (Platz 10). Auch bei der mentalen Gesundheit, also etwa Lebenszufriedenheit oder Suizidprävalenz unter Jugendlichen, steht Deutschland mit Platz 18 im Mittelfeld – ein bedenklicher Befund für ein Land, das sich selbst als kinderfreundlich versteht.

Die fünf bestplatzierten Länder – Niederlande, Dänemark, Frankreich, Portugal und Irland – zeichnen sich durch ausgewogene Ergebnisse in allen drei Bereichen aus. Die Niederlande etwa stehen auf Platz 1 bei der psychischen Gesundheit, Frankreich belegt in der körperlichen Gesundheit den zweiten Rang, Irland liegt bei den Skills auf Platz 1 – ein Zeichen, dass es sehr wohl möglich ist, inmitten multipler Krisen stabile Bedingungen für Kinder zu schaffen. Diese Staaten investieren in Bildung, in frühkindliche Förderung, in psychologische Betreuung – und sie tun dies nicht nur punktuell, sondern systematisch und langfristig.

Deutschland hingegen ist in einer strukturellen Stagnation gefangen. Die Corona-Pandemie führte hierzulande zu 38 Wochen Schulschließung – mehr als in Frankreich, der Schweiz oder den Niederlanden. Die Auswirkungen auf das Lernverhalten, die psychische Belastung und die soziale Isolation sind evident, und der Bericht macht deutlich: Die Folgen sind nicht überwunden. Gleichzeitig ist der Anteil übergewichtiger Kinder gestiegen, die Lebenszufriedenheit gesunken – und die Ungleichheit gewachsen. Denn wie der Bericht betont: Nicht alle Kinder sind gleich betroffen. Besonders Kinder aus einkommensschwachen Familien, aus Alleinerziehenden-Haushalten oder mit Migrationshintergrund tragen die Hauptlast der Entwicklung. Fast jede:r sechste Jugendliche in den untersuchten Ländern lebt mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung – Tendenz steigend. Und auch wenn Deutschland im Ranking kein Schlusslicht ist, bleibt das eigentliche Drama, dass es den Trend nicht stoppt, sondern verstärkt.

In einem Land, das sich Fortschritt auf die Fahnen schreibt, lebt jedes fünfte Kind in Armut. Nicht metaphorisch. Nicht gefühlt. Sondern real. Drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen unter Bedingungen auf, die das Wort „Zukunft“ zur Farce machen. Es ist ein Skandal mit Ansage – und ein systemisches Versagen, das längst zur Normalität geworden ist. Denn Kinderarmut ist kein Betriebsunfall. Sie ist gewollt – als Konsequenz einer Politik, die strukturelle Ungleichheit verwaltet, statt sie zu beseitigen. Eine Politik, die lieber Haushaltsdisziplin predigt als Gerechtigkeit verwirklicht. Die Wahrheit ist: Deutschland spart an der Kindheit. Am Wohlergehen derer, die keine Lobby haben, keine Schlagzeilen machen, nicht demonstrieren können – aber das Rückgrat der kommenden Gesellschaft bilden.

Die Zahlen aus dem Jahr 2024 sprechen eine Sprache, die man nicht beschönigen kann: Fast 40 Prozent der ausländischen Kinder in Deutschland leben von Bürgergeld. Bei deutschen Kindern sind es 7,6 Prozent – immer noch zu viel, aber Ausdruck einer Schieflage, die ethnisch gelesen werden kann. Kinder mit Migrationshintergrund tragen das zweifache Stigma von Herkunft und Armut – und zahlen dafür mit Chancen, Gesundheit, Lebensfreude. Wie soll ein Kind lernen, dass es gleich viel wert ist, wenn die eigene Familie sich kein frisches Obst leisten kann, weil die Regelsätze nur vier bis sieben Euro pro Tag für Ernährung vorsehen? Wenn das Kinderzimmer zum einzigen Rückzugsort wird – und es diesen Raum gar nicht gibt? Wenn Geburtstagsfeiern, Schwimmbadbesuche oder Klassenfahrten zu Erzählungen anderer gehören? Diese Armut ist kein individuelles Scheitern. Sie ist das Ergebnis politischer Entscheidung. Denn Kinder sind arm, wenn ihre Eltern arm sind. Und diese Eltern arbeiten oft – zu viel, zu schlecht bezahlt, ohne Absicherung. Alleinerziehend. Diskriminiert. Krank. Gestrandet in einem System, das an vielen Stellen mehr abwehrt als ermöglicht. Die Armut wird so vererbt, nicht nur materiell, sondern emotional, kulturell, sozial. Ein Defizit, das sich einbrennt – in Biografien, die nie die gleiche Chance hatten. Die große Antwort soll die Kindergrundsicherung sein. Ein Konzept, das Leistungen bündelt, vereinfacht, erhöhen soll. Doch bislang bleibt sie ein Versprechen. Vieles steht auf dem Papier, wenig ist beschlossen. Währenddessen steigen die Preise – Brot, Paprika, Orangensaft – ein Prozent nach dem anderen, und jede kleine Erhöhung bedeutet für manche Familien: ein Tag weniger Sattsein.

Wer den sozialen Frieden bewahren will, muss Kinderarmut abschaffen. Nicht morgen. Heute. Denn ein Land, das seine Kinder verrät, verliert mehr als Wohlstand – es verliert sich selbst. In den Statistiken, in der Sprachlosigkeit, in der feinen Linie zwischen Ignoranz und Gleichgültigkeit. Kinderarmut ist keine Naturgewalt. Sie ist ein politischer Wille – oder sein Fehlen. Und solange sich daran nichts ändert, bleibt jeder Appell eine Lüge, jede Umfrage ein Alibi, jeder Regierungswechsel ein kosmetisches Manöver. Denn wer das Schweigen über Kinderarmut akzeptiert, akzeptiert, dass es Kinder zweiter Klasse gibt. Und das ist nicht nur ungerecht. Es ist unerträglich.

Und wer nun glaubt, es handle sich bei all dem um eine bloße statistische Grobschätzung, der irrt. Die Zahlen existieren. Sie sind fein säuberlich aufgeschlüsselt – nach Alter, Herkunft, Bildungsgrad, Region und Familienform. Und sie erzählen eine noch deutlich düsterere Geschichte als die offizielle Gesamtlage. So waren im Jahr 2023 laut EU-SILC rund 14,0 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland armutsgefährdet – das entspricht etwa 2,1 Millionen jungen Menschen. Doch der Durchschnitt verschleiert die Wirklichkeit. Denn Kinder aus bildungsfernen Haushalten – also aus Familien, in denen die Eltern keinen Berufsabschluss besitzen – sind mit 36,8 Prozent besonders stark betroffen. Wenn die Eltern hingegen einen höheren Abschluss haben, wie etwa ein Studium, sinkt das Risiko auf nur 5,8 Prozent. Bildung, so zeigt sich, schützt – aber nur, wenn man sie sich leisten kann. Alleinerziehende Mütter bilden eine weitere Brennzone: Etwa 24 Prozent von ihnen beziehen Bürgergeld – und leben mit ihren Kindern dauerhaft in prekären Verhältnissen. Besonders hoch ist das Risiko bei Ein-Eltern-Haushalten mit mehreren Kindern. Und genau hier überschneiden sich oft mehrere Armutsfaktoren – Bildungsferne, Teilzeitjobs, gesundheitliche Belastung, Diskriminierung. Auch die Familiengröße spielt eine zentrale Rolle: In Mehrkindfamilien mit drei oder mehr Kindern ist das Risiko besonders hoch – laut Bundesfamilienministerium wuchsen rund 50 Prozent aller armen Kinder 2022 in solchen Haushalten auf. Besonders gravierend bleibt der Migrationsfaktor: Kinder mit Migrationshintergrund waren zuletzt mit etwa 28 bis 30 Prozent mehr als doppelt so häufig von Armut betroffen wie Kinder ohne Migrationsgeschichte (13–14 Prozent). Noch dramatischer ist die Lage bei ausländischen Kindern ohne deutsche Staatsangehörigkeit: Rund 39,7 Prozent von ihnen bezogen 2023 Bürgergeld – gegenüber nur 7,6 Prozent bei deutschen Kindern. Diese Armut ist also kein Nebel, sie ist kartografierbar – mit klaren Konturen. Man weiß, wo sie wohnt, wie sie aussieht, wem sie gehört. Die Daten sind da, sie liegen offen. Die Frage ist nur: Will jemand wirklich hinschauen?

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Monika Niemann
Monika Niemann
1 Monat zuvor

Abgesehen von den mangelnden Investitionen in frühkindliche Bildung ist auffällig, dass in den meisten Ländern, die vor uns rangieren, ein erheblicher Anteil der Kinder vorschulische Bildung genießt. In Frankreich sind drei Jahre Ècole Maternelle Pflicht, in den nordischen Ländern nimmt ein erheblichen Anteil der Kinder an frühkindlicher Bildung teil. Deutschland liegt da leicht unter dem Durchschnitt. Wer sein KInd bnis zum Schuleintritt zu Hause lassen möchte, kann das hier tun. Ein Ansatz wäre, mindestens ein, besser noch zwei Jahre verpflichtende vorschulische Bildung bei gleichzeitiger Reform der pädagogischen Ansätze der KiTas in Richtung „Teil der Bildungsbiografie“.

Ela Gatto
Ela Gatto
1 Monat zuvor

Es läuft einiges falsch, aber seit Jahrzehnten.

Es gibt Einige die jammern, dass sie kein Geld für „gesunde Ernährung “ haben. Aber für Zigaretten, lteilweise Alkohol, die neueste Playstation ist Geld da.

Auf der anderen Seite Alleinerziehende die sich den Hintern aufreißen für den Lebensunterhalt ihrer Kinder.

Vorschulische Betreuung ab dem 4. Lebensjahr muss verpflichtend werden.
so lernen die Kinder Routkne, werden bicht vor dem Fernseher/Computer geparkt und Kinder mit Migrationshintergrund lernen vor Beginn der Schule deutsch.

Aber es fehlt an Erziehern, es will kaum einer machen.
Es fehlen Location.
Die ganze Logistik muss neu aufgezogen werden.
Dort muss es auch Frühstück und Mittagessen geben.

Das Gleiche gilt für die Schule.
Mindestens 2 Mahlzeiten.

In Anbetracht des Lehrermangels, denn auch da findet sich kaum Nachwuchs, weiß ich nicht, wie man auf die Herausforderungen in der Bildung reagieren kann.
Es braucht viel mehr Lehrer, kleine Klassen um auch das Ungleichgewicht bei Sprachkenntnissen abzufangen.
Hausaufgabenbetreuung wäre unerlässlich, da bei vielen Kindern im häuslichen Umfeld kein Wert darauf gelegt wird.

Aber man darf trotzdem bicht vergessen, dass Kinder Kinder sein sollen.
Freiheit haben dürfen, sich austoben.

Denn neben den „ist mir egal Eltern“ gibt es die Eltern, die jede Minute ihres Kindes verlangen haben.
Sportverein hier Musikunterricht dort.

Es wäre schön, wenn das alles in kleinen Schritten angegangen werden wûrde.

Vielleicht mal nach Skandinavien oder zu anderen Länder schauen.
Was läuft da, was in Deutschland nicht läuft.

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