Die neue Härte – Merz, das „kleine-Trump“-Prinzip und der Abriss des Minimums

VonRainer Hofmann

Oktober 6, 2025

Die Regierung nennt es Reform, doch in Wahrheit ist es ein Systemwechsel. Mit der Abschaffung des Bürgergelds und der Einführung einer sogenannten neuen Grundsicherung beginnt ein Kapitel, das nicht von Modernisierung erzählt, sondern von einer Rückkehr zur Härte. Hinter technokratischen Begriffen wie Leistungsanreiz und Verantwortungsethik verbirgt sich ein Programm, das nicht Armut lindert, sondern normiert. Friedrich Merz, der Kanzler der neuen Ordnung, nennt es einen „ehrlichen Neustart“. Kritiker sprechen längst von einem Rollback in die Neunziger.

Seit seinem Amtsantritt im Frühjahr führt Merz eine Koalition, die sich als pragmatisch versteht, aber ideologisch tief verankert ist. Während die SPD die soziale Fassade aufrechterhält, diktiert die CDU die Haushaltslinie. Obwohl Carsten Linnemann kein Regierungsamt innehat, gilt er innerhalb der Union als einer der prägenden Ideengeber der neuen Grundsicherungslogik – eine Linie, die Kanzler Merz und Finanzminister Klingbeil in unterschiedlicher Tonlage vertreten: Die Sozialausgaben müssen sinken, die Arbeitsanreize steigen (Bundestagsdebatte 18.09.2025). Eine Formel, die in Zahlen übersetzt bedeutet: weniger Geld für jene, die ohnehin am wenigsten haben.

Der Regelsatz für Alleinstehende liegt seit Januar 2025 bei 563 Euro (Bundesgesetzblatt 2024 I Nr. 267). Schon diese Summe, so nüchtern sie wirkt, ist ein politisches Statement: Sie hält die Menschen über Wasser, aber nie über der Oberfläche. Die neue Grundsicherung wird diese Logik weiter verschärfen. Die Karenzzeit, die bisher ein Jahr Schonfrist gewährte, in dem tatsächliche Mieten anerkannt und Ersparnisse nicht angetastet wurden (SGB II § 12 Abs. 3), soll entfallen. Künftig gilt nur noch, was als „angemessen“ gilt – ein Wort, das in Verwaltungstabellen entschieden wird, nicht im Leben.

In Berlin liegt die Obergrenze für eine Einpersonenmiete bei 449 Euro (KdU-Richtwert Berlin 2025, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales), in Frankfurt bei 786 Euro (Jobcenter Frankfurt a. M., KdU-Tabelle Juli 2025), in München bei 890 Euro (Sozialreferat Stadt München, KdU-Richtlinie 2025). Auf dem Papier klingt das nach Fürsorge, in der Realität nach Zynismus. Eine Einzimmerwohnung kostet in Berlin inzwischen 700 – 900 Euro (Immowelt-Marktbericht Q3 2025, Immoscout Q3 2025), in München 900 – 1.200 Euro, in Frankfurt 800 – 1.100 Euro (ebd.). Wer also „angemessen“ wohnt, wohnt entweder nicht oder zahlt drauf. Wer in Berlin eine kleine Wohnung für 800 Euro hält, muss 351 Euro aus dem Regelsatz beisteuern (eigene Berechnung auf Basis der KdU-Obergrenze und Regelsatz BMAS).

Nach Strom, durchschnittlich 63 Euro im Monat (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft 2025), Telefon und Internet, etwa 40 Euro (Bitkom-Verbraucherreport 2025), und dem Deutschlandticket, das seit 1. Januar 2025 58 Euro kostet und im kommenden Jahr auf geplante 63 Euro steigen soll (Beschluss der Bundesregierung vom 13. September 2025), bleiben einer alleinstehenden Person in Berlin realistisch 90 bis 110 Euro im Monat für Lebensmittel, Medikamente, Kleidung, Hygieneartikel, Reparaturen und alles andere – eine Rechnung, die kein Ministerium dementiert, aber auch keiner öffentlich macht.

Das Arbeits- und Sozialministerium unter Bärbel Bas (SPD) spricht von individueller Verantwortung und realistischen Zumutungen (Bundespressekonferenz 17.09.2025). In den Jobcentern bedeutet das schlicht: zahlen, rechnen, verzichten. Die angekündigte Reduktion des Schonvermögens von derzeit 40 000 Euro auf künftig 15 000 Euro pro Person (BMAS-Entwurf Arbeitsgruppe Grundsicherung 23.09.2025) wird diesen Kurs fortsetzen. Was einst ein Sicherheitsnetz war, wird zum Durchlassventil. Schon ein kleiner Puffer, der jahrelang aus Arbeit, Sparsamkeit oder Hoffnung gewachsen ist, kann künftig angerechnet werden. Und wer sich weigert, jede Maßnahme mitzutragen, verliert nicht nur Geld, sondern den Anspruch auf staatliche Unterstützung überhaupt – das ist der Geist der neuen Linie: Härte als Methode, Angst als Motivator.

In seinem ARD-Sommerinterview am 7. Juli 2025 bezeichnete Merz die Reform als „Frage der Leistungsgerechtigkeit“, doch in Wahrheit ist es die kalte Ordnung einer Ära, die glaubt, Armut sei ein pädagogisches Problem. Das Konzept stammt aus der Workfare-Logik, die in den 1990er-Jahren in den Vereinigten Staaten etabliert wurde (Clinton Welfare Reform 1996). Donald Trump hat dieses Denken zur politischen Waffe gemacht – Merz hat es studiert und in das deutsche Verwaltungsvokabular übersetzt. Beide eint das Credo, dass der Staat nicht solidarisch, sondern strafend zu sein habe, wenn er Effizienz beweisen will.

Die Folgen lassen sich längst ablesen. In Großstädten wächst die Zahl derer, die ihre Wohnung halten, aber nicht mehr heizen können (Caritas Deutschland Jahresbericht 2025). Sozialverbände sprechen von einem „stillen Hunger“ in der unteren Mittelschicht (Deutscher Paritätischer Gesamtverband September 2025). Die Bundesagentur für Arbeit warnt intern vor steigenden Ausfallquoten bei Mieten, Krankenversicherungen und Energieversorgern (BA-Bericht „Soziale Lage Q2 2025“). Die Haushaltskürzungen, die kurzfristig den Etat entlasten, werden langfristig zu Mehrkosten führen – nur in anderen Ministerien. Armut ist teuer, wenn man sie verwaltet, statt sie zu verhindern.

Doch jenseits der Zahlen ist es der Ton, der verrät, wohin das Land steuert. Die Sprache der Regierung ist die eines Managements, nicht eines Sozialstaats. Menschen werden zu Kostenpunkten, Abhängigkeit zu Fehlverhalten, Fürsorge zu Fehlallokation. Die SPD hält dagegen, aber nur rhetorisch. Sie spricht von sozialem Korrektiv, doch der Kurs ist längst festgelegt. Merz hat den Diskurs gewonnen – nicht durch Mehrheit, sondern durch Wiederholung.

Was also bleibt von diesem neuen System, das wie eine technische Reform klingt, in Wahrheit aber eine moralische Regression ist? Ein Land, in dem das Existenzminimum wieder verhandelbar wird. Ein Haushalt, der nicht spart, sondern verschiebt – von der Grundsicherung in die Notaufnahme, von der Miete in die Schuldnerberatung, vom Menschen in die Statistik.

Man kann über Zahlen reden, über Effizienz, über den Haushalt. Doch am Ende bleibt eine einzige Frage, die keine politische Farbe braucht, um gültig zu sein:

Wovon sollen Menschen leben, wenn selbst das Minimum nicht mehr reicht?

Merz sagt, es gehe um Disziplin (ZDF-Sommerinterview 06.07.2025). Am 18. September 2025, im Rahmen der Haushaltsdebatte im Bundestag, wurde mehrfach auf Linnemanns „Verantwortungsbegriff“ Bezug genommen. Bas sagt, es gehe um Balance (BPK 17.09.2025). Aber das alles beantwortet die Frage nicht. Denn (Modellrechnung) 563 minus 351 minus 63 minus 58 ergibt kein politisches Programm, sondern eine stille Anklage. Und die trägt eine Wahrheit in sich, die keine Regierung gern hört: Wer Armut rationalisiert, verliert irgendwann die Moral, sie zu bekämpfen.

Quellenangaben (Auszug):
  • BMAS – Bundesgesetzblatt 2024 I Nr. 267 (Regelsätze 2025);
  • Bundeshaushalt 2025 – Einzelplan 11;
  • Senatsverwaltung Berlin – KdU-Richtwerte 2025;
  • Jobcenter Frankfurt a. M. – KdU Juli 2025;
  • Stadt München – KdU-Richtlinie 2025;
  • Immowelt – Marktbericht Q3 2025;
  • Immoscout Q3 2025;
  • BDEW – Stromreport 2025;
  • Bitkom – Verbraucherreport 2025;
  • Beschluss Bundesregierung vom 11.12.2024 (Deutschlandticket);
  • Caritas Deutschland – Jahresbericht 2025;
  • Bundesagentur für Arbeit – Soziale Lage Q2 2025;
  • CDU-Positionspapier vom 22.07.2025;
  • Interview Welt am Sonntag – Linnemann sprach Mitte September (14.09.2025) von „Verantwortung vor Anspruch“ – eine Formulierung, die in der Haushaltsdebatte des Bundestags wenige Tage später mehrfach zitiert wurde;
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