Inmitten der trockenen Hitze von Guadalajara, dort, wo Kakteen in staubigen Böden wurzeln und die Sonne erbarmungslos vom Himmel brennt, entsteht in einem unscheinbaren Labor eine der vielversprechendsten Antworten auf eine der größten Umweltkrisen unserer Zeit. Sandra Pascoe Ortiz, Chemieingenieurin, hat ein Material entwickelt, das klingt wie ein Märchen aus der Zukunft – und doch ist es erstaunlich real: biologisch abbaubares Plastik aus Kaktus.

Was wie ein PR-Gag klingt, ist das Ergebnis jahrelanger Forschung und mexikanischer Kreativität. Das Geheimnis liegt im Feigenkaktus, in Mexiko schlicht „Nopal“ genannt. Diese Pflanze ist nicht nur Symbol nationaler Identität, sondern ein echter Alleskönner: Sie wächst rasant, benötigt wenig Wasser, ist robust gegen Trockenheit und liefert nicht nur Nahrung, sondern auch Rohstoffe – und eben den entscheidenden, zähen, grünen Saft, aus dem Ortiz ihren Kunststoff gewonnen hat. Im Labor wird dieser Saft aus reifen, dicken Kaktusblättern extrahiert, mit natürlichen Zutaten wie Glycerin, pflanzlichen Wachsen und Proteinen vermischt, in Formen gegossen und getrocknet. Das Resultat: Ein Polymerfilm, der sich in Festigkeit und Flexibilität mit herkömmlichem Plastik messen kann – und doch etwas ganz anderes ist. Denn dieses Kaktusplastik ist radikal vergänglich: Wird es in normale Gartenerde gegeben, zerfällt es innerhalb von zwei bis drei Monaten. Gelangt es ins Wasser, ist es nach wenigen Tagen verschwunden. Keine Rückstände, kein Mikroplastik, keine giftigen Additive. Was übrig bleibt, ist Erde. Das Material ist sogar essbar und völlig ungefährlich für Tiere, Vögel oder Meereslebewesen – eine entscheidende Innovation in einer Welt, in der jedes Jahr Millionen Tonnen Plastik in Flüsse und Ozeane gespült werden.

Dass diese ökologische Revolution möglich ist, verdankt sich nicht zuletzt der uralten Intelligenz der Natur: Der Nopal-Kaktus produziert einen klebrigen Saft, um sich vor Austrocknung zu schützen und seine Blätter gegen Schädlinge zu wappnen. Dieses natürliche Polymer bindet Wasser, formt stabile Strukturen und lässt sich so zu einem neuen Werkstoff umwandeln. Der Clou: Die Pflanze nimmt keinen Schaden, denn geerntet werden stets nur reife Blätter – der Kaktus treibt einfach nach und ist somit eine fast unerschöpfliche Ressource. Weil das Herstellungsverfahren ohne industrielle Hochtemperaturprozesse, synthetische Chemie oder energieintensive Maschinen auskommt, bleibt der ökologische Fußabdruck minimal. Ortiz’ Kaktusplastik ist somit nicht nur umweltfreundlich im Ergebnis, sondern auch in der Produktion. Was bedeutet das für die Zukunft? Die ersten Prototypen – Beutel, Verpackungen, essbare Hüllen – sind in lokalen Märkten und Küstenregionen im Einsatz, wo Plastikverschmutzung existenzielle Folgen für Ökosysteme hat. Noch ist die Herstellung von Kaktusplastik nicht im industriellen Maßstab angekommen. Ortiz’ Team produziert aktuell Mengen im Kilogrammbereich – genug für Pilotprojekte, aber (noch) weit entfernt von den Hunderttausenden Tonnen Plastik, die allein Mexiko jährlich verbraucht. Doch der Rohstoff wächst buchstäblich vor der Haustür: Mexiko zählt schätzungsweise über 7 Millionen Hektar Nopal-Anbau, und viele Flächen sind bislang kaum genutzt. Das Potenzial, zumindest einen signifikanten Teil der Einweg-Verpackungen durch Kaktuspolymere zu ersetzen, ist real. Zudem sind Kaktusplantagen weniger ressourcenhungrig als Mais- oder Zuckerrohrfelder, die sonst für Bio-Plastik herangezogen werden.

„Ganz gleich, wie viele Biokunststoffe oder ‚umweltfreundliche‘ Materialien es gibt – wenn wir die Produktion solcher Materialien und damit auch deren Abfall nicht verringern, wird es keine echten Lösungen geben.“
– Sandra Pascoe Ortiz, PLOS Biology
Kann Kaktusplastik eines Tages das Erdölplastik ganz ersetzen? In gewissen Segmenten – etwa bei kurzlebigen Verpackungen, Tüten, kompostierbaren Folien oder sogar als essbare Hülle für Lebensmittel – ist das möglich. Die Materialeigenschaften lassen sich gezielt anpassen, etwa in Sachen Festigkeit oder Feuchtigkeitsbeständigkeit. Für langlebige Industrieprodukte, Elektronik oder Baukunststoffe wird das Kaktuspolymer auf absehbare Zeit keine Option sein. Doch gerade dort, wo Einweg-Plastikmüll das größte Problem ist, könnte die Lösung so einfach wie genial sein: Kaktus statt Kunststoff, Pflanzenkraft statt Petrochemie.

Die Vision von Sandra Pascoe Ortiz ist so schlicht wie revolutionär: Eine Verpackung, die keinen Müll hinterlässt, sondern zur Erde zurückkehrt – und dabei eine jahrhundertealte Nutzpflanze ins Zentrum einer grünen Kreislaufwirtschaft stellt. Was in einem Labor zwischen Wüstensukkulenten und mexikanischem Erfindergeist begann, könnte das globale Verständnis von Ressourcen, Produktion und Verantwortung grundlegend verändern. Der Kaktus ist bereit. Jetzt ist es die Gesellschaft, die den nächsten Schritt machen muss.
Investigativer Journalismus braucht Mut, Haltung und auch Deine Unterstützung.
Das ist unglaublich spannend und gibt Hoffnung.
Hoffentlich ist es patentiert, damit es sich kein großer Konzern einfach unter den Nagel reißt.
Ja, das hat sie gemacht und wir werden das verfolgen und in den nächsten Wochen auch einen Artikel aus dem Labor machen. Eine grandiose Idee und ein richtiges Model für die Zukunft
Coole Story