Die Grube von Tuam – 796 Kinderleichen im Abwasser: Irlands tödliches Erbe

VonRainer Hofmann

Juni 17, 2025

Was dort liegt, ist kein Friedhof. Es ist ein Abwasserbehälter. Und darin: die sterblichen Überreste von 796 Kindern – von Neugeborenen bis zu Neunjährigen. Verscharrt unter einer Wiese, mitten in einem Wohngebiet im Westen Irlands, nahe der Stadt Tuam. Zwischen 1925 und 1961 betrieben die Bon-Secours-Schwestern, ein katholischer Orden, dort ein sogenanntes Mutter-und-Kind-Heim. Es war ein Ort der Schande – nicht für die Kirche, sondern für die Frauen, die man dorthin verbannte, weil sie unverheiratet schwanger geworden waren. Sie galten als sittlich gefallen, entehrt, verloren. Ihre Kinder starben in großer Zahl – an Vernachlässigung, an Krankheiten, an Hunger. Was ihnen blieb, war kein Grab, kein Name, kein Segen. Nur ein stillgelegter Klärtank, ein Betonloch – und das Schweigen der Institutionen.

Dass dieses Schweigen gebrochen wurde, ist dem Mut und der Ausdauer einer einzigen Frau zu verdanken: Catherine Corless, Lokalhistorikerin, Tochter der Region, Bürgerin mit Gewissen. Sie war es, die die Todeszahlen rekonstruierte, Kirchenarchive durchkämmte, Sterbeurkunden zusammentrug – bis sie auf die Zahl stieß, die Irland bis heute erschüttert: 796 tote Kinder, ohne dokumentiertes Begräbnis. Ihre Nachforschungen führten 2014 zur Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission. Doch bis das irische Parlament 2022 endlich ein Gesetz verabschiedete, das die Exhumierung erlaubte, vergingen weitere Jahre. Und selbst heute noch ist das Gedenken zögerlich, die Aufarbeitung schleppend, der institutionelle Widerstand spürbar. Es geht um Schuld. Um Mitschuld. Und um jahrzehntelange Vertuschung durch Staat und Kirche.

Catherine Corless

Denn was in Tuam geschah, war kein isoliertes Versehen – es war Teil eines Systems. Ein Zusammenspiel von religiöser Kontrolle, staatlicher Gleichgültigkeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Die Mutter-und-Kind-Heime waren Orte der Umerziehung, der Trennung, der Entwurzelung. Über 9.000 Kinder starben landesweit in solchen Einrichtungen. Und selbst jene, die überlebten, wurden oft zwangsadoptiert – auch ins Ausland, oft ohne Wissen der Mütter. Dass 796 von ihnen in einem Abwassertank endeten, ist Symbol und Anklage zugleich. Es ist Irlands nationale Wunde. Und sie ist offen. Solange die Namen dieser Kinder nicht gesprochen, ihre Überreste nicht geborgen und ihre Geschichten nicht erzählt sind, bleibt Tuam ein Ort der Scham. Nicht für die Mütter. Sondern für jene, die sich Christen nannten – und Menschlichkeit verweigerten.

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