Manchmal genügt kein Schrei, sondern ein Satz. In San Francisco, an der Fassade des legendären Buchladens City Lights Booksellers & Publishers, hängen seit dieser Woche vier große Banner, weißer Stoff, schwarze Buchstaben, schlichte Mahnungen – und doch wirken sie wie ein Schlag in die Stille:
„Bemitleide die Nation, deren Führer Lügner sind.“
„Bemitleide die Nation, deren Weise zum Schweigen gebracht und deren Fanatiker die Sendefrequenzen beherrschen.“
„Bemitleide die Nation, die Eroberer preist und den Tyrannen als Helden feiert.“
„Bemitleide die Menschen, die zulassen, dass ihre Freiheiten erodieren und ihre Rechte weggespült werden.“
Es sind Sätze, die sich in das Stadtbild brennen – leise, aber unausweichlich. Sätze, die von der libanesisch-amerikanischen Dichterin Lawrence Ferlinghetti inspiriert sind, dem Gründer eben jenes Hauses, das heute wieder zu sprechen beginnt, weil andere schweigen. City Lights ist mehr als ein Buchladen. Es ist ein Symbol – für Mut, für Gegenkultur, für jene Art von Intellekt, die sich weigert, den Mund zu halten, wenn der Staat die Zügel anzieht. In den fünfziger Jahren war es Ferlinghettis Verlag, der Allen Ginsbergs Howl veröffentlichte – damals ein Skandal, heute Weltliteratur. Und jetzt, sieben Jahrzehnte später, hängt dort wieder Poesie an der Wand – diesmal als Warnung.

Die Banner erscheinen nicht zufällig in dieser Woche. Die US-Regierung hat Bundesagenten in die Bay Area entsandt – offiziell, um „Sicherheitsoperationen“ zu unterstützen, tatsächlich aber, so empfinden es viele in San Francisco, um Präsenz zu zeigen. Einschüchterung als Routine. In den Straßen kursiert eine neue Nervosität, ein Gefühl, dass die föderale Macht immer näher rückt. Vor den Fenstern des Ladens bleiben Passanten stehen, fotografieren, nicken, manche lesen die Zeilen laut. In einer Stadt, die sich seit jeher gegen politische Übergriffigkeit wehrt, wird Literatur wieder zu dem, was sie einmal war – zu einer Form des Widerstands. „Worte sind stärker als Gewalt“, sagte Ferlinghetti einst. An diesem Tag wirkt es, als würde die Stadt ihm antworten.
Die Protestbanner von City Lights sind keine Parolen, keine Hashtags, keine Schlagworte. Sie sind Erinnerungen. Daran, dass Freiheit kein Zustand ist, sondern eine Handlung. Dass Wahrhaftigkeit kein Ideal ist, sondern ein täglicher Akt. Und dass in Zeiten, in denen Lügen wie Befehle klingen, der einfachste Satz zur Revolution werden kann. So steht der alte Buchladen inmitten der Unruhe wie ein Denkmal der Sprache – unerschütterlich, eigensinnig, wach. Und die Worte an seiner Fassade hängen da wie ein Schwur: dass Amerika sich nicht nur über Macht, sondern auch über Mut definieren sollte.
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