Wochenlange Recherchen über das Produkt der Firma Babel Street mit Sitz in Washington, D.C. offenbaren ein Überwachungssystem, das tief in die Privatsphäre eingreift – und auch in Deutschland längst in behördlichen Kreisen angekommen ist. Die Plattform „Babel X“, entwickelt von Babel Street, erlaubt es, Social-Media-Inhalte plattformübergreifend in Echtzeit zu durchsuchen, Profile zu analysieren, Bewegungsmuster zu rekonstruieren und „Threat Scores“ zu berechnen – angeblich alles auf Grundlage „offener Daten“. Doch was öffentlich klingt, ist in Wirklichkeit oft nicht für die Allgemeinheit zugänglich, sondern für Behörden extrahiert, rekombiniert und algorithmisch bewertet. Das macht Babel X zu einem hochumstrittenen Instrument in der modernen OSINT-Landschaft – gerade weil seine Leistungsfähigkeit mit einem Mangel an Kontrolle einhergeht.

In Baden-Württemberg und Bayern wird Babel Street nach weiteren Recherchen als sogenanntes „Strategic Intelligence Tool“ evaluiert. Offiziell gibt es keine transparente Auskunft über den Umfang oder die Art des Einsatzes – Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz werden regelmäßig mit Verweis auf Sicherheitsinteressen abgewiesen. Doch die Gefahr ist real: Die Software kann beispielsweise anhand von Spitznamen, Emojis oder Standortdaten politische Bewegungen ausforschen – etwa die „No Kings“-Proteste oder migrationspolitische Gruppen. Die Benutzeroberfläche, wie geleakte Screenshots zeigen, erlaubt Filter nach Sprache, Einfluss, Emotion oder Netzwerkzugehörigkeit. In einer geleakten Datenbankübersicht wird Babel Street neben Plattformen wie Grindr, Uber, AOL oder eBay als eindeutig identifizierbare Datenquelle geführt – ein Hinweis darauf, in welchen digitalen Ökosystemen solche Tools eingebettet sind.

Ein weiterer geleakter Screenshot dokumentiert den Einkauf von Babel Street-Lizenzen durch Behörden in Washington, D.C., im Wert von fast 175.000 US-Dollar – offenbar, um die Nutzung trotz wachsender Bedenken sozialer Plattformen weiter sicherzustellen. Eine interne E-Mail zeigt zudem, dass Babel Street bereits 2015 dem lokalen Fusion Center in der Hauptstadt eine Liste mit Personen übermittelte, die während der Proteste gegen Polizeigewalt sowohl in Ferguson als auch in Baltimore aktiv waren – mit dem expliziten Hinweis, keine Journalist:innen oder bekannte Personen zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen belegt die gezielte Erfassung ziviler Protestteilnahme durch automatisierte Verknüpfung von Aufenthaltsdaten und Social-Media-Analyse.


Wie funktioniert Babel X im Detail? Das Tool verbindet automatisierte Spracherkennung mit semantischer Analyse, um aus Milliarden Social-Media-Postings in Echtzeit Zielprofile zu erstellen – auf Wunsch sogar rückwirkend. Es erstellt Verhaltensmuster, erkennt emotionale Tonlagen, geclusterte Themenverläufe und kann durch Link-Analysen digitale Netzwerke kartieren. Selbst gelöschte Inhalte können rekonstruiert werden, sofern sie im Caching-Prozess oder bei Partnerdiensten erfasst wurden. Ziel ist nicht nur das Monitoring, sondern das gezielte Filtern von Menschen anhand algorithmisch bewerteter Relevanz. Die Nutzung solcher Tools, ohne richterlichen Beschluss, ermöglicht einen faktischen Kontrollverlust über die eigenen Daten und Meinungsäußerungen – insbesondere für marginalisierte Gruppen, Aktivist:innen und politische Gegner. Die ethischen und juristischen Gefahren liegen auf der Hand. Babel X berechnet algorithmisch, wer als gefährlich gilt – und das ohne Wissen der Betroffenen, ohne rechtliches Gehör, ohne Richterbeschluss. Das System erlaubt nicht nur, potenzielle Risiken zu erkennen, sondern erschafft sie mitunter selbst, indem es Menschen auf Basis politischer, sprachlicher oder ethnischer Merkmale in Risikokategorien einsortiert.
Die Herstellerfirma Babel Street betont ihre Nähe zu US-Behörden wie NSA oder Homeland Security. Eine direkte Verbindung zu Peter Thiel ist nicht belegt – doch in der ideologischen Nähe zu Projekten wie Palantir lassen sich deutliche Parallelen erkennen. Palantir – ein Unternehmen, das von Thiel mitbegründet wurde und lange Zeit von der CIA mitfinanziert war – entwickelt ähnliche Analyseplattformen für Geheimdienste und Grenzschutzbehörden. Der autoritäre Anspruch auf totale Datenverfügbarkeit und algorithmische Steuerung staatlicher Repression ist das verbindende Element beider Konzepte. Während deutsche Polizeibehörden Babel X offenbar längst testen, schweigt die Politik. Doch die zentrale Frage bleibt: Wer überwacht die Überwacher – wenn selbst die Überwachung geheim bleibt? Die Nähe der Babel-Technologie zu autoritären Überwachungsregimen und rechtspopulistischen Strategien der MAGA-Bewegung in den USA ist unübersehbar. Trumps Netzwerke haben in der Vergangenheit auf Tools wie Palantir gesetzt – und Babel Street fügt sich nahtlos in diese Tradition ein: automatisierte Kontrolle unter dem Deckmantel öffentlicher Sicherheit. Wer sich schützen will, kann derzeit nur auf technische Selbstverteidigung setzen: Anonymisierung, bewusster Umgang mit Ortungsdiensten, Einsatz von Open-Source-Suchmaschinen, kryptografische Kommunikation und Verzicht auf vernetzte Plattformen mit US-Anbindung.
Diese Erkenntnisse werfen kein Schlaglicht, sondern Flutlicht auf die deutsche Sicherheitspolitik. Was als strategisches Tool eingeführt wird, könnte zum trojanischen Pferd werden: Die digitale Kontrollinfrastruktur eines autoritären Sicherheitsstaates – made in USA.
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😢
Gute Aufklärung ist immer der erste Schritte solche „Machenschaften“ in die Schranke zu bekommen
Das ist ja gruselig, dagegen war ja 1984 ein Kinderbuch.
Und es wird hier unkritisch genutzt.
Glaubt man vielleicht auch noch, dass die Daten nicht in die USA zur Auswertung geleitet werden?
So deutsche Bürger in den Fokus rücken?
Stasi war gestern.
Heute gibt es bequeme Tools für Autokraten und Diktatoren.
Was für grauenvolle Aussichten.