Die Männer auf dem Boot sahen ihn zuerst als kleinen Punkt am Horizont. Eine amerikanische Drohne, die näher kam. Sie verstanden sofort. Panisch warfen sie den Motor herum, das Boot schlingerte in einer harten Kurve zurück Richtung venezolanische Küste. Vielleicht dachten sie, wenn sie nur schnell genug wären, wenn sie nur die heimischen Gewässer erreichten… Die erste Rakete traf sie mittschiffs. Einige wurden ins Wasser geschleudert, verletzt, aber lebendig. Sie kämpften zwischen den brennenden Trümmern. Dann kam die zweite Rakete. Gezielt. Präzise. Final. Elf wohl unschuldige Männer starben an diesem 2. September 2025 in der Karibik. Nicht im Kampf. Nicht bei einer Verhaftung. Sie starben auf der Flucht, hingerichtet von einer Supermacht, die sich zum Richter, Geschworenen und Henker ernannt hatte.
Heute, vierzehn Tage später, wiederholte sich das Grauen. Wieder ein Boot, wieder die Wende zurück zur Küste, als sie ihren Verfolger bemerkten. Wieder half es nichts. Drei weitere Tote. Donald Trump prahlte auf Truth Social wie ein Großwildjäger mit seiner Beute: „BE WARNED — IF YOU ARE TRANSPORTING DRUGS THAT CAN KILL AMERICANS, WE ARE HUNTING YOU!“

Das Problem: Es gibt keinen einzigen belastbaren Beweis, dass auf diesen Booten Drogen waren.
Beim ersten Angriff verdichten sich die Indizien sogar ins Gegenteil. Die Kursdaten, die amerikanische Offizielle mittlerweile selbst bestätigten, zeigen ein Boot, das umkehrt, sobald es die Verfolgung bemerkt – kein typisches Schmuggelverhalten, sondern die verzweifelte Reaktion von Menschen in Todesangst. Ein hochrangiger Pentagon-Beamter, nannte es unverblümt einen „kriminellen Angriff auf Zivilisten“. Die Trump-Administration, sagte er, habe den Weg für diese Angriffe geebnet, indem sie Anfang des Jahres die obersten Rechtsberater von Army und Air Force feuerten. Recherchen bestätigen es, Gespräche mit Angehörigen zeigen ein ganz anderes Bild auf.
Die venezolanische Regierung, so sehr man ihr auch misstrauen mag, hat einen Punkt: Sie behauptet, die Getöteten seien weder Mitglieder der Tren de Aragua-Gang gewesen noch Drogenschmuggler. Das Pentagon selbst konnte in internen Briefings keine schlüssigen Beweise vorlegen, dass die Opfer des ersten Angriffs zur Tren de Aragua gehörten. Die Briefings vor den zuständigen Kongressausschüssen wurden kurzfristig abgesagt – just als kritische Fragen zur rechtlichen Grundlage und zu den Beweisen anstanden.
Was Trump als Beweis für den zweiten Angriff anführt, ist an Absurdität kaum zu überbieten: „Big bags of cocaine and fentanyl all over the place“, behauptete er. Große Säcke voll Kokain und Fentanyl, die angeblich nach dem Angriff im Ozean trieben. Keine Fotos davon. Keine Bergung. Keine unabhängige Verifikation. Nur das Wort eines Mannes, der nachweislich über 30.000 Mal während seiner ersten Amtszeit gelogen hat. Die Rechtfertigungsversuche der Administration sind ein Kartenhaus aus Propaganda und Rechtsbeugung. Anna Kelly, Sprecherin des Weißen Hauses, behauptet, Trump habe „im Einklang mit den Gesetzen bewaffneter Konflikte“ gehandelt, um Amerika vor jenen zu schützen, die versuchen, „Gift an unsere Küsten zu bringen.“ Welche Gesetze bewaffneter Konflikte? Die USA befinden sich nicht im Krieg mit Venezuela. Der Kongress hat keine militärische Aktion gegen Drogenkartelle autorisiert. Es gibt keine Resolution, die solche Angriffe legitimiert.
Die juristische Sachlage ist kristallklar: Die Angriffe verstoßen gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta, der jede Gewaltanwendung zwischen Staaten verbietet, außer zur Selbstverteidigung oder mit Zustimmung des Sicherheitsrats. Sie brechen Artikel 3 der Genfer Konventionen, der Morde an Personen verbietet, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen. Sie ignorieren die War Powers Resolution von 1973, die den Präsidenten verpflichtet, Militäreinsätze innerhalb von 48 Stunden zu melden und nach 60 Tagen die Zustimmung des Kongresses einzuholen. Sie verhöhnen die US-Verfassung selbst, die dem Kongress, nicht dem Präsidenten, die Macht gibt, Krieg zu erklären. Selbst wenn man die haarsträubende Prämisse akzeptierte, dass Drogenschmuggler militärische Ziele seien – was sie definitiv nicht sind -, bliebe die Tatsache, dass das US-Strafrecht für Drogenhandel keine Todesstrafe vorsieht. Wie kann dann dieselbe Tat in internationalen Gewässern eine summarische Exekution rechtfertigen?
Marco Rubio machte in einem Moment erschreckender Ehrlichkeit klar, worum es wirklich geht. Die USA hätten die Boote auch aufbringen und die Besatzungen verhaften können, gab er zu. „Aber“, fügte er hinzu, „was sie wirklich aufhalten wird, ist, wenn man sie in die Luft jagt.“ Als Vizepräsident JD Vance gefragt wurde, ob die Tötung von Zivilisten ohne ordentlichen Prozess nicht ein Kriegsverbrechen sei, antwortete er mit einer Kaltschnäuzigkeit, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: „I don’t give a shit what you call it.“ Diese Worte sind keine Ausrutscher. Sie sind die Essenz einer neuen amerikanischen Doktrin: Macht definiert Recht. Wer die Drohnen hat, macht die Regeln. Wer die stärkste Armee hat, braucht keine Gesetze.
Die Drogenkrise, mit der Trump diese Morde rechtfertigt, ist real – 100.000 Amerikaner sterben jährlich an Überdosen. Aber Venezuela spielt dabei eine marginale Rolle. Die wahren Fakten: Venezuela produziert praktisch kein Fentanyl, die tödlichste Droge in den USA. Fentanyl wird fast ausschließlich in Mexiko hergestellt, mit Vorläuferchemikalien aus China. Beim Kokain sieht es kaum anders aus: Nach Daten der DEA verlassen 74 Prozent der Kokainlieferungen Südamerika über den Pazifik, hauptsächlich aus Kolumbien und Ecuador. Nur 24 Prozent nehmen die Route über die Karibik. Venezuela selbst ist kein bedeutender Kokainproduzent.

Die militärische Eskalation spricht eine eigene Sprache: 4.500 US-Soldaten und Marines sind in die Karibik verlegt worden, zusammen mit sieben Kriegsschiffen und einem nuklearbetriebenen U-Boot. Zehn F-35-Kampfjets wurden nach Puerto Rico verlegt. Das ist keine Anti-Drogen-Operation. Das ist die Vorbereitung auf einen Krieg, den niemand autorisiert hat. Senator Rand Paul, selbst Republikaner, enthüllte ein entscheidendes Detail: Die Angriffe wurden mit Drohnen durchgeführt. „Der jüngste Drohnenangriff auf ein kleines Schnellboot über 2.000 Meilen von unserer Küste entfernt, ohne Identifizierung der Insassen oder des Inhalts des Bootes, ist in keiner Weise Teil eines erklärten Krieges“, sagte er. Er nannte es das, was es ist: Mord.
Die internationale Reaktion – oder vielmehr deren Fehlen – ist ein Armutszeugnis historischen Ausmaßes. Kein Aufschrei aus Berlin, wo man sonst gerne von „wertebasierter Außenpolitik“ spricht. Kein Protest aus Paris, der Stadt der Menschenrechte. Keine Resolution der Vereinten Nationen. Keine Verurteilung durch die Europäische Union. Dieses Schweigen ist nicht neutral. Es ist Komplizenschaft.

Jeder Tag, an dem Europa schweigt, sendet ein Signal an alle Despoten dieser Welt: Wenn ihr nur mächtig genug seid, könnt ihr töten, wen ihr wollt. Putin in der Ukraine, Xi in Taiwan, jeder Warlord und Diktator nimmt zur Kenntnis: Das Völkerrecht ist tot, wenn es dem Westen unbequem wird. Und wo sind die einstigen Jediritter der Menschenrechte, Amnesty International? Sie sind zur Social-Media-Hülle verkommen, ein Schatten ihrer einstigen Kraft. Was früher mutige Kampagnen mit mutigen Menschen, unangenehme Wahrheiten und Druck auf Regierungen waren, ist heute oft nur noch ein Strom von Instagram-Postings, Hashtags und weichgespülten Presseerklärungen. Amnesty wirkt satt, bürokratisch und abgehoben – mehr darauf bedacht, die eigene Marke zu pflegen, als reale Menschenrechtsverletzungen kompromisslos anzugehen. Wir sehen das selbst, wenn es um Abschiebungen oder konkrete Einzelfälle geht: Da kommt fast nichts, keine Präsenz, keine kämpferische Unterstützung. Stattdessen schiebt man Verantwortung hin und her, während die Betroffenen schutzlos bleiben.

Dieser Wandel ist fatal. Eine Organisation, die einmal als moralische Instanz galt, spielt sich heute in der digitalen Selbstinszenierung ab, während die Realität von Gewalt, Folter, Entrechtung und staatlichen Übergriffen ungebremst weitergeht. Es ist, als hätten sie ihre Schärfe gegen Likes eingetauscht. Doch Menschenrechte lassen sich nicht mit Hashtags und Likes retten, sondern nur mit klarer Haltung, unbequemen Wahrheiten und echtem Engagement vor Ort. Indem Amnesty das verlernt hat, öffnet sie das Feld für jene, die das Recht mit Füßen treten – und sie macht sich mitschuldig an einer Welt, in der Völkerrechtsbrüche zur Normalität werden.

Die Vereinten Nationen wirken in dieser Frage genauso kraftlos wie Amnesty. Statt klare Worte zu finden und den Bruch des Völkerrechts durch die USA beim Namen zu nennen, verliert sich die UN in diplomatischen Floskeln, Appellen und „Besorgnis“-Erklärungen. Wenn Russland in der Ukraine bombardiert, gibt es Resolutionen und Sondersitzungen, wenn Israel in Gaza agiert, folgen Debatten und Untersuchungen – doch wenn die USA ohne Rechtsgrundlage militärisch zuschlagen, herrscht Schweigen. Dieses Schweigen ist Parteinahme, es ermutigt einen Terrorpräsidenten wie Trump, weil es signalisiert: Macht steht über Recht. Damit untergräbt die UN ihre eigene Existenzgrundlage – Frieden zu sichern, Recht zu bewahren und Menschen vor Gewalt zu schützen – und wird zum Deckmantel einer Weltordnung, die zur Farce verkommt.
Dieses Versagen der demokratischen Welt ist Wasser auf die Mühlen der Extremisten. Tommy Robinson in Großbritannien kann auf die Heuchelei der Eliten zeigen. Die AfD in Deutschland kann sich als einzige „ehrliche“ Kraft inszenieren. Marine Le Pen, auch wenn sie politisch aktuell eingeschränkt ist, in Frankreich kann sagen: Seht her, die etablierten Politiker sind schwache Marionetten. Und tragischerweise haben sie nicht ganz unrecht. Wenn demokratische Regierungen ihre eigenen Grundwerte verraten, wenn sie zu feige sind, Verbrechen beim Namen zu nennen, nur weil der Täter ein Verbündeter ist, dann sind sie tatsächlich schwach. Die langfristigen Konsequenzen sind verheerend. Wenn „Narkoterrorist“ als Etikett ausreicht für eine Hinrichtung ohne Prozess, wo endet das? Heute sind es angebliche Schmuggler aus Venezuela. Morgen vielleicht Migranten aus Mexiko? Übermorgen politische Gegner, die man einfach zu „Terroristen“ erklärt?

Senator Jack Reed, der ranghöchste Demokrat im Streitkräfteausschuss, warnte: „Kein Präsident kann heimlich Krieg führen oder ungerechtfertigte Tötungen durchführen – das ist Autoritarismus, nicht Demokratie.“ Er forderte, der Kongress müsse „Antworten verlangen, Transparenz erzwingen und diese Administration zur Rechenschaft ziehen, bevor sie uns in einen weiteren sinnlosen Krieg stürzt.“

Senator Adam Schiff kündigte an, er werde eine Resolution nach dem War Powers Act einbringen, um „die Macht des Kongresses zur Kriegserklärung zurückzuerlangen“. Er warnte: „Diese gesetzwidrigen Tötungen bringen uns nur in Gefahr“ und könnten andere Länder dazu veranlassen, US-Streitkräfte ohne Rechtfertigung anzugreifen. Aber während im Kongress debattiert wird, schafft Trump Fakten. Blutige, unwiderrufliche Fakten. Vierzehn Menschen sind tot. Getötet ohne Prozess, ohne Beweise, ohne auch nur den Versuch einer rechtlichen Rechtfertigung.
Die Geschichte wird diesen September 2025 als Wendepunkt markieren. Als den Moment, in dem die nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam errichtete internationale Rechtsordnung zu sterben begann. Nicht mit einem großen Knall, sondern mit dem Schweigen der Anständigen, während die Skrupellosen morden. In der Karibik treiben keine Drogenpakete. Dort treiben die Leichen des Völkerrechts. Und mit ihnen die Hoffnung, dass die Menschheit aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelernt hat. Trump hat nicht nur vierzehn Menschen getötet. Er hat die Idee getötet, dass Recht stärker ist als Macht. Und die Welt hat zugesehen. Schweigend. Feige. Mitschuldig.
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Ich bewundere dich, euch, daß du, ihr, immer wieder aus diesem Sumpf berichtet, paßt auf, daß ihr dabei geau d bleibt, physisch und psychisch!
ich danke dir, und das machen wir…
Die UN ist schon lange ein aufgeblasener Papiertiger.
Wie kann es sein, dass Agressiren Veto einlegen können, wenn es um Tesolutionen gegen sie geht?
Alleine das ist doch schon vollkommener Unsinn.
UN Charta, Genfer Konventionen … was davon haben die USA unterzeichnet?
Die Demokraten MÜSSEN jetzt tätig werden und versuchen mit den wenigen Republikanern die ein Fünkchen Gewissen haben, das medienwirksam in den Kongress zu bringen.
Nur der Kongress kann hier einwirken.
Denn von der Weltengemeinschaft ist nichts zu erwarten.
Amnesty International hat in meinen Augen schon sehr lange ihren Kurs verloren.
…ja leider, leider, leider, und genau diese organisationen braucht man als unterstützung