Es ist spät geworden im Bundesgericht am Everett McKinley Dirksen Courthouse in Chicago. Die Sitzreihen sind voll, die Luft ist schwer, und die Worte, die Richterin April M. Perry an diesem Abend spricht, gehören bereits jetzt in die Chronik eines politischen Wendepunkts. Perry, eine von Präsident Biden ernannte Bundesrichterin, verkündet ein Urteil, das in seiner Klarheit so selten geworden ist wie die Vernunft in Washington: Der Einsatz der Nationalgarde in Illinois ist vorerst gestoppt. Die Entscheidung fällt nach Tagen intensiver Anhörungen, hitziger Argumente und widersprüchlicher Aussagen der Trump-Regierung. Während draußen Demonstranten Transparente gegen Militarisierung hochhalten, verhandeln drinnen Anwälte über die Definition eines Wortes: Rebellion. Die Bundesregierung behauptet, es gebe in Illinois eine „Gefahr eines Aufstands“ – eine juristische Fiktion, die Präsident Trump als Rechtfertigung nutzt, um Soldaten in amerikanische Städte zu schicken.
Perry sieht das anders. „Ich habe keine glaubwürdigen Beweise dafür gesehen, dass im Bundesstaat Illinois eine Gefahr eines Aufstands besteht“, sagt sie kühl.
Dann folgt der Satz, der in seiner historischen Wucht hängen bleibt: „Nicht einmal Alexander Hamilton hätte sich vorstellen können, dass die Miliz eines Bundesstaates gegen die Bewohner eines anderen eingesetzt wird, nur weil der Präsident diejenigen bestrafen will, die andere Ansichten haben als er selbst.“ Hamilton – einer der Gründerväter der USA, Mitautor der Federalist Papers und Architekt der Finanzverfassung – war ein glühender Verfechter einer starken Exekutive, aber auch ein scharfer Verteidiger der Gewaltenteilung. Dass Perry ausgerechnet ihn zitiert, ist kein Zufall. Es ist eine Mahnung: Selbst die härtesten Föderalisten hätten vor Trumps Machtverständnis zurückgeschreckt.
Die Klage kam von Illinois und der Stadt Chicago, vertreten durch Generalstaatsanwalt Kwame Raoul. Sie warfen der Trump-Regierung vor, das Militärrecht zu missbrauchen, um politische Gegner zu disziplinieren. „Krieg und Aufstand sind schwere Begriffe“, sagte Raouls leitender Jurist Christopher Wells. „Die Autoren der Verfassung haben sie nicht leichtfertig gewählt.“ Wells argumentierte, es gebe keine Rebellion, keinen Bürgerkrieg, nur Bürger, die protestieren – gegen Trumps brutale Einwanderungspolitik und den Einsatz von ICE-Agenten, die in Broadview Tränengas gegen Demonstranten und Journalisten eingesetzt hatten. Der Bundesstaat fordere nicht mehr und nicht weniger als die Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Gleichgewichts. „Was der Präsident Illinois antut, ist illegal und gesetzlos“, sagte Wells.
Die Gegenseite, vertreten durch den stellvertretenden Justizminister Eric Hamilton, malte ein anderes Bild: von Angriffen auf Bundesbeamte, angeblichen Waffenfunden, einer Bombe, die nie belegt wurde, und sogar von einem „Agitator“, der einem ICE-Offizier den Bart ausgerissen haben soll – eine Behauptung, über die Perry später öffentlich spottete. Als Perry nachhakte, wie viele Soldaten überhaupt entsandt werden sollten, wich Hamilton aus. 200 aus Texas, 300 aus Illinois – aber „es gibt keine Obergrenze“. Auf die Frage, ob sie außerhalb Chicagos eingesetzt werden könnten, antwortete er schlicht: „Es könnte sein.“
Perry zeigte sich entsetzt. „Ich versuche herauszufinden, wo das jemals aufhören würde“, sagte sie. „Nach Ihrer Logik könnte jeder Protest als Aufstand gelten.“
Ihr Urteil fiel eindeutig, aber nicht grenzenlos aus. Richterin Perry hat inzwischen eine einstweilige Verfügung erlassen, die Bundesbehörden für die kommenden 14 Tage ausdrücklich untersagt, die Nationalgarde der Vereinigten Staaten im Bundesstaat Illinois zu föderalisieren oder zu entsenden. Den Antrag der Trump-Regierung, die Wirkung dieser Anordnung auszusetzen, wies sie zurück – betonte jedoch im Gerichtssaal, dass eine Berufung voraussichtlich folgen werde. Die einstweilige Verfügung richtet sich gegen die unmittelbare Stationierung oder den Einsatz von Nationalgardisten im Bundesstaat Illinois. Sie schließt jedoch nicht aus, dass Bundesbehörden wie der U.S. Marshals Service oder der Federal Protective Service weiterhin Schutzmaßnahmen für ihre Einrichtungen ergreifen – oder dass Illinois selbst, unter dem Kommando des Gouverneurs, eigene Gardeeinheiten einsetzen könnte. Mit anderen Worten: Perry hat den föderalen Eingriff Trumps gestoppt, aber die Befugnisse des Bundesstaates unangetastet gelassen.
Ihr Urteil ist vorläufig – eine temporäre Verfügung, bis das Gericht in einer Hauptverhandlung endgültig über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes entscheidet. Noch während der Anhörung kündigte ein Anwalt der Trump-Regierung Berufung an. Die Sache dürfte schon bald vor dem Seventh Circuit Court of Appeals in Chicago landen, wo die Regierung versucht, das Urteil kippen zu lassen.
Perry stellte in ihrem Beschluss klar, dass Nationalgardisten „nicht in Deeskalation geschult“ seien und ihr Einsatz „nur Öl ins Feuer gießen“ würde – in ein Feuer, das die Regierung selbst entzündet habe. Ihr Urteil ist nicht nur juristisch, sondern moralisch: Ein Präsident, der Soldaten in Städte schickt, weil er Widerspruch als Aufstand betrachtet, hat den demokratischen Kompass verloren.
Auch in Portland, Oregon, tobte zeitgleich derselbe Streit – dort allerdings vor einem Berufungsgericht, das mit zwei Trump-Richtern besetzt ist. Sie zeigten sich geneigt, die Truppeneinsätze zuzulassen. Es ist ein Muster, das sich durch die gesamte Republik zieht: Föderale Gewalt gegen föderale Prinzipien. Es bleibt noch abzuwarten, der Abend und die Nacht dürften wieder einmal lange werden.
Perry aber hat den Ausnahmezustand gestoppt – zumindest vorerst. Ihr Urteil ist eine Erinnerung daran, dass die Gewaltenteilung kein Relikt ist, sondern ein Bollwerk. Dass Recht nicht im Weißen Haus gemacht wird, sondern in Gerichtssälen, in denen noch Menschen sitzen, die an die Idee glauben, dass niemand über dem Gesetz steht – auch kein Präsident. Als sie den Saal verließ, kam kurz Applaus auf. Nicht laut, aber spürbar. Es war kein Triumph, sondern Erleichterung – ein Aufatmen in einem Land, das gelernt hat, dass Demokratie verteidigt werden muss, selbst gegen jene, die behaupten, sie zu retten.
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