Chemnitz/Stade, Juli 2025 – Es war ein Auftritt, der nie hätte stattfinden dürfen – und doch stattfand. Martin Sellner, der zentrale Kopf der sogenannten „Identitären Bewegung“ und geistige Stichwortgeber der europäischen extremen Rechten, hat im Rathaus von Chemnitz gesprochen. Nicht öffentlich, nicht offiziell – aber hörbar. Aus einem kleinen Bürofenster im hinteren Trakt des Gebäudes richtete er eine mehrminütige Rede an die versammelte Menge, nachdem zwei Gerichte seinen geplanten Auftritt in einem städtischen Veranstaltungsraum untersagt hatten. Die Stadt, so eine Sprecherin gegenüber MDR Sachsen, „musste zur Kenntnis nehmen, dass er seine Show dennoch abziehen konnte“. Doch was wie ein kleines Rechtsmanöver wirkt, ist in Wahrheit Ausdruck eines politischen Kulturkampfs, der längst in die Rathäuser eingezogen ist. Die Ablehnung der Veranstaltung durch das Verwaltungsgericht Chemnitz und das Oberverwaltungsgericht in Bautzen war klar: Die geplante Rede zum Thema „Remigration“ falle nicht in die Zuständigkeit des Stadtrats, so das Urteil – und es bestehe zudem die begründete Erwartung, dass „extremistische und rassistische Inhalte“ verbreitet würden. Genau das verbiete die Benutzungsordnung der Stadt. Der Beschluss ist unanfechtbar. Doch das hinderte die Szene nicht daran, ihre Botschaft trotzdem zu platzieren – mit Symbolik, Strategie und einer aufgeladenen Selbstinszenierung. Während hinter dem Rathaus rund 60 Anhänger der „Freien Sachsen“ demonstrierten, bildeten etwa 500 Menschen – organisiert vom Bündnis „Chemnitz verbindet“ – eine Menschenkette gegen Hass und Hetze. Es ist ein Bild, das sich zunehmend in deutschen Städten wiederholt: Auf der einen Seite ein demokratisches Aufbäumen gegen den autoritären Umbau von Sprache und Politik. Auf der anderen Seite eine extrem rechte Bewegung, die sich der Begriffe bemächtigt, ihrer Verbote zum Trotz.
Denn der Auftritt Sellners war kein isoliertes Ereignis – er war Teil eines inszenierten Prozesses. Bereits im Vorfeld hatte Björn Höcke, Fraktionschef der AfD Thüringen, auf seinem Telegram-Kanal offen Werbung gemacht für Sellners Buch „Remigration. Ein Vorschlag“. Auf dem Titel: ein harmlos wirkender Höcke im Wald, das Buch auf dem Knie, daneben der markige Schriftzug „Leseempfehlung“. Der Text darunter betont, wie wichtig das Thema sei – schließlich habe das Verwaltungsgericht ausdrücklich auf den Begriff „Remigration“ Bezug genommen. Und ob der zuständige Richter das Buch überhaupt gelesen habe? Höcke zweifelt es an – und verteidigt dabei den Autor gegen den Vorwurf, Staatsbürger mit Migrationshintergrund zu „Menschen zweiter Klasse“ zu erklären. Deutlich wurde diese ideologische Komplizenschaft auch bei der AfD Stade, wo Martin Sellner gemeinsam mit Oliver Strotmann, AFD, sein Buch „Remigration – Ein Vorschlag“ präsentierte – inszeniert wie ein ganz gewöhnlicher Pressetermin. Auf dem geistigen Tisch lagen nicht nur seine Thesen zur erzwungenen Rückführung, sondern auch das programmatisch betitelte Werk „Nicht ohne die AfD“, ein in der Substanz leeres Werk von Strotmann. Es war eine visuelle Erklärung zur geistigen Arbeitsteilung: hier der völkische Visionär, dort die parteipolitische Struktur – verbunden durch das gemeinsame Ziel, aus menschenfeindlicher Rhetorik Regierungspolitik zu machen. Was hier als rhetorisches Manöver erscheint, ist in Wahrheit ein ideologisches Schulterschließen. Martin Sellner, in Österreich wegen seiner Nähe zum Rechtsextremismus unter Beobachtung, wird durch die AfD-Fraktion in Deutschland zunehmend als Stichwortgeber salonfähig gemacht. Die semantische Verharmlosung seiner Agenda – die forcierte, auch staatlich begleitete Rückführung von Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte – wird unter dem Begriff „Remigration“ in einen intellektuell klingenden Mantel gekleidet. Dass sich Björn Höcke, der bereits mehrfach durch geschichtsrevisionistische Aussagen aufgefallen ist, öffentlich hinter das Buch stellt, ist mehr als nur eine Leseempfehlung: Es ist ein politisches Signal.

Und so steht am Ende des Tages in Chemnitz nicht nur ein aufgebrochener Konflikt zwischen Stadtverwaltung, Justiz und extrem rechter Szene. Sondern auch ein Lehrstück darüber, wie tief die Normalisierung rechtsextremer Denkweisen bereits reicht. Wer einem Autor wie Sellner eine Plattform gibt – ob auf Telegram, im Stadtrat oder aus dem Bürofenster –, der verleiht einem völkischen Konzept wie „Remigration“ gesellschaftliche Resonanz. Und wer in der AfD davon spricht, „alle Argumente hören“ zu wollen, meint in Wahrheit oft: alle Grenzen verschieben. Chemnitz mag an diesem Tag die Tür zum Veranstaltungsraum geschlossen haben. Die offene Flanke liegt längst woanders – in der Sprache, der Symbolik, der Strategie. Und genau dort findet die eigentliche Machtprobe statt.
Traurig, dass hier Niemand eingeschritten ist.
Die Urteile waren klar und eindeutig.
Das muss Konsequenzen haben.
✌🏻 Laut Recherche Nord haben sich Sellner und Strotmann in Schnellroda bei Kubischek getroffen. So auch ersichtlich gewesen auf Strotmanns mittlerweile gelöschtem Instagram Kanal. In Stade war Sellner nicht!!