Der Ausnahmezustand im Kopf – Wie Björn Höcke den Zweifel zur politischen Waffe macht

VonRainer Hofmann

Oktober 17, 2025

Ein Satz, wie er auf Telegram dutzendfach auftaucht – beiläufig, unscheinbar, gefährlich. „Oder handelt es sich lediglich um ein Medientheater?“ fragt Björn Höcke in diesem merkwürdig abwägenden Ton, der vorgibt, nach Wahrheit zu suchen, während er sie längst ersetzt hat. Es ist der Ton einer neuen Rechten, die nicht mehr brüllt, sondern flüstert – und doch lauter wirkt als jede Sirene. Der Beitrag, um den es geht, liest sich wie eine politische Fantasie, getarnt als Lageanalyse. Höcke spricht von „nicht vollständig aufgeklärten Luftraumverletzungen in Polen“ und von der „Drohkulisse“, die angeblich aufgebaut werde, um einen „Kriegseintritt zu provozieren“. Russland, so suggeriert er, habe weder Absicht noch Mittel, die NATO anzugreifen. Die eigentliche Gefahr, sagt er, liege im Westen selbst – in der Bundesregierung, in Brüssel, in den Medien.

Dann fällt der Satz, der alles bündelt: „Notstandsgesetze sind der letzte Ausweg, wie sich die Kartellparteien noch an der Macht halten können.“ Es ist der Moment, in dem politische Analyse in Paranoia umschlägt. Und doch funktioniert der Text, gerade weil er nicht wie ein Aufruf klingt. Er ist kalkuliert ruhig, mit dem Rhythmus einer akademischen Rede. Dazwischen: Zitate, Schlagworte, Anspielungen. Carl Schmitt darf nicht fehlen – jener Jurist, der einst das Denken des Ausnahmezustands zur juristischen Waffe des Nationalsozialismus machte. Höcke zitiert ihn zustimmend: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

Wer genau liest, versteht: Hier schreibt kein ahnungsloser Populist, sondern jemand, der genau weiß, was er tut. Höcke nimmt den Satz, der einst die Zerstörung der Weimarer Republik legitimierte, und benutzt ihn, um Misstrauen gegen die Demokratie von heute zu säen. Es ist kein Zufall, keine intellektuelle Spielerei. Es ist Strategie. Das Muster ist bekannt – und doch brandgefährlich. Zuerst kommt der Zweifel: Könnte es sein, dass alles inszeniert ist? Dann der Verdacht: Wer profitiert? Schließlich die Umkehr: Nicht Russland bedroht Europa, sondern Europa bedroht sich selbst. Das ist die Grammatik der Desinformation. Sie wirkt nicht durch Lüge, sondern durch Suggestion.

Höckes Telegrammtext behauptet, die Bundesregierung bereite einen inneren Ausnahmezustand vor, um durch Angst Kontrolle zu sichern. Doch was hier als Warnung daherkommt, ist in Wahrheit eine Projektion: die autoritäre Fantasie, selbst bestimmen zu dürfen, wann die Demokratie endet. Das eigentlich Verstörende ist, wie vertraut all das klingt. Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur lebt die Sprache des Verdachts wieder auf – intellektuell getarnt, semantisch poliert, politisch verharmlost. Höcke gebraucht Begriffe wie „Souveränität“ oder „Notstand“ nicht, um sie zu analysieren, sondern um sie umzuprogrammieren. Das Wort wird zur Attrappe. Die Theorie wird zur Droge.

Und das Land schaut zu

In Deutschland reagiert man auf solche Texte mit ritualisierter Empörung. Ein paar Schlagzeilen in Social Media, ein zynisches Zitat, und dann wieder Stille. Kaum jemand seziert die Logik, niemand widerspricht Punkt für Punkt. Der Widerstand ist höflich, akademisch, fern, meist auf Häme aufgebaut. Das ist die Realität in 2025. Genau davon lebt diese Rhetorik: vom Schweigen der Mitte der Gesellschaft. Die USA sind ein warnendes Beispiel dafür, wohin es führt, wenn die gesellschaftliche Mitte glaubt, all das gehe sie nichts an – außer, sie wünsche es sich selbst. Denn Desinformation wirkt nicht, weil sie überzeugt. Sie wirkt, weil sie wiederholt wird. Social Media ist dafür das perfekte Medium – eine Parallelöffentlichkeit, in der sich Halbwissen und Überzeugung vermischen, bis sie ununterscheidbar werden. Dort verwandelt sich das Misstrauen gegen Institutionen in eine neue Form von Glauben: den Glauben, dass nichts mehr echt ist.

In dieser Leere gedeiht Macht. Wenn alles relativ scheint, wirkt derjenige stark, der behauptet, das Chaos zu verstehen. Und Höcke versteht, wie man Chaos inszeniert. Er spricht von Russland, meint aber Deutschland. Er warnt vor Notstandsgesetzen, während er die Idee des Ausnahmezustands romantisiert. Er prangert Machtmissbrauch an, um ihn vorzubereiten.

Das ist keine Dummheit. Es ist Handwerk

Der Text über die „Luftraumverletzungen in Polen“ ist kein Ausrutscher, sondern ein Prototyp: ein Beispiel dafür, wie die neue Rechte intellektuelle Werkzeuge kapert, um den Begriff der Wahrheit selbst zu zersetzen. Was bei Carl Schmitt noch als Theorie über den Ausnahmezustand begann, endet hier als Telegrammverschwörung – verpackt in den Duktus politischer Tiefenschärfe. Aber die größere Geschichte ist nicht Höcke. Es ist Deutschland. Ein Land, das so sehr darauf bedacht ist, „nicht zu überreagieren“, dass es die Wiederkehr alter Muster kaum bemerkt. Das zögert, wo es handeln müsste, und diskutiert, wo es widersprechen sollte. Der Widerstand ist rational, die Gefahr emotional. Und Rationalität verliert immer, wenn Emotion gelernt hat, sich als Wahrheit zu verkleiden.

Vielleicht liegt genau hier das Problem: Man hat gelernt, Desinformation zu erkennen, aber nicht, sie zu bekämpfen. Es gibt Werkzeuge, aber keine Haltung. Die Demokratie ist in der Defensive, nicht, weil ihre Gegner stärker wären, sondern weil sie selbst überheblich geworden ist. Höcke weiß das. Und er nutzt diese Müdigkeit wie ein Vakuum.

Seine Texte sind keine Aufrufe zum Sturm, sie sind Tests – darauf, wie weit man gehen kann, bevor jemand reagiert. Jeder Satz ein Fühler. Jeder Post ein Versuch, das Vertrauen in Institutionen ein Stück weiter zu verschieben. Der Ausnahmezustand, von dem er spricht, ist längst da. Nur nicht dort, wo er ihn behauptet. Er findet in den Köpfen statt – als dauerhafte Bereitschaft, an die Lüge zu glauben, weil sie leichter ist als die Wahrheit. Und vielleicht ist das der eigentliche Ausnahmezustand unserer Zeit: eine Gesellschaft, die sich an den Zweifel gewöhnt hat, bis sie ihn mit Denken verwechselt.

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Ela Gatto
Ela Gatto
3 Stunden zuvor

Und mit solchen Phrasen werden die Social Media Plattformen geflutet.
Von echten Personen, aber vor allem von Troll-Bots. Um zu suggerieren, dass die Mehrheit der Deutschen so denkt und dahinter steht.

Kritiker werden mit den typischen Phrasen angegangen, die sich wiederholen, aber jeglichen wirklichen Inhalt entbehren.
Wenn man damit kein Schweigen erreicht, werden die Leute persönlich angegriffen. Lächerlich gemacht, diffamiert.
Und so werden die Kritiker leiser und weniger.

Wie soll man gegen die Übermacht dieser Bots ankommen?
Argumentieren kann man mit Bots nicht.

Es ist so frustrierend.

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