Dein Leben gehört dir nicht mehr

VonRainer Hofmann

Juni 28, 2025

„Du bist erledigt – die Richterin mag Russland nicht.“ Der Satz fiel wie ein Stein. Kein juristisches Argument, kein Zweifel, kein Spielraum. Nur ein Urteil, das längst gefällt war, bevor ein Verfahren begann. So klingt es, wenn Gerechtigkeit ersetzt wurde – durch Haltung, Abwehr, Ablehnung. Wer heute als russischer Flüchtling an Amerikas Grenze steht, muss sich nicht schuldig machen. Es reicht, dass er da ist.

Er hatte eine Ohrenentzündung, wartete zwei Monate auf einen Arzt. Am Ende sagte der Beamte: „Wenn Sie einen Schlaganfall bekommen – beantragen Sie doch einfach die Abschiebung.“ Der Satz fiel nicht im Zynismus, sondern in Gleichgültigkeit. Jeder Versuch, sich Gehör zu verschaffen, wurde mit der gleichen Formel abgetan: „Then apply for deportation.“ In dem Lager, in dem er untergebracht war, versuchte ein Mann, sich umzubringen. Man hatte ihm eine Rasierklinge abgenommen und ihn zur Strafe in Einzelhaft gesteckt. Erst als er sich mit bloßen Zähnen die Venen aufriss, wurde er behandelt. Russen hängten sich auf. Diabetiker bekamen keine Medikamente, nur einen Fingerstich zur Blutzuckermessung – dann nichts mehr. Und auch er, sagt er, war irgendwann so krank, dass selbst Schmerzmittel nicht mehr wirkten. In einem der seltenen Momente, in denen man sie nach draußen ließ, traf er jemanden, der mit seiner Frau transportiert worden war. Es stellte sich heraus, dass sie im selben Lager war. Ab der dritten Anhörung wurden sie gemeinsam in den Gerichtssaal gebracht, nebeneinandergesetzt – dann wieder getrennt. Berühren durften sie sich nicht. Ein falscher Blick, eine zu große Nähe – und die Wärter stürmten dazwischen. „No physical contact!“ Sie sagten es nicht, sie schrien es. Manche russische Familien wurden vollständig zerschlagen. Die Frau nach Louisiana. Das Kind in ein Heim. Einige Männer erhielten Briefe von ihren Frauen: „Ich habe die freiwillige Ausreise beantragt. Ich kann nicht mehr.“ Und keiner wusste, was schlimmer war – das Dableiben oder das Gehen. Erst rund um den Jahreswechsel begannen sie, Menschen freizulassen, die länger als fünf Monate in Haft waren. Seine Frau wurde im Dezember entlassen, er im Januar. Keine Begründung. Keine Entschuldigung. Nur ein freier Platz in der Zelle.

Jetzt leben sie irgendwo in den USA. Warten auf einen Gerichtstermin, der vielleicht nächstes Jahr kommt – oder nie. Sie haben einen Sponsor, Krankenversicherung, aber kein Recht zu arbeiten. Jeder Fehler, jede Kleinigkeit – und sie werden zurückgebracht. Zurück in die Gitter, in die Matratzen mit Nummern, in das Land ohne Zeit. „Wir lebten in Angst in Russland“, sagt er. „Und wir leben in Angst in Amerika.“ Sie haben ihren Telegram-Kanal behalten. Noch. Noch haben sie nicht aufgegeben. Sie sagen: „Wir haben alles verloren – unser Leben dort, unsere Hoffnung hier.“ Und wer es hört, merkt: Hoffnung ist nicht immer ein Anfang. Manchmal ist sie das Letzte, was einem genommen wird. Er sagt: „Ich weiß, dass ich keine Rechte habe. Sie lassen mich hier. Mehr nicht.“ Und dann spricht er jenen Satz, der wie ein Schlag in die Brust fährt: „Dein Leben gehört dir nicht mehr.“ Denn wer abgeschoben wird, der kehrt nicht einfach zurück. Der verschwindet. In Russland angekommen, geht man durch die Passkontrolle – und danach verliert sich jede Spur. Die Beamten geben einem die Papiere zurück. Die Telefone. Die Akte. Und dann beginnt das, wovor man geflohen ist – ganz offiziell. Ein Abschiebeflug ist keine Rückkehr. Es ist ein Urteil ohne Richter.

Dmitry Valuev, Vorsitzender von Russian America for Democracy in Russia, nennt die Lage „katastrophal“. Seit Mitte 2024, so sagt er, werden russische Flüchtlinge in sogenannten „detention centers“ festgehalten – also Gefängnissen für Menschen, die keinen Verbrechen begangen haben. Fast alle sind von der Außenwelt abgeschnitten. Es gibt Hinweise, dass ein geheimer Erlass existiert, wonach Personen aus bestimmten postsowjetischen Staaten – Russland, Georgien, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan – bis zur endgültigen Bearbeitung ihrer Fälle in Haft bleiben müssen. Keine offizielle Version. Kein Dokument. Nur Indizien. In einigen Einrichtungen machen Russen inzwischen über 60 Prozent der Insassen aus – obwohl sie unter den Asylsuchenden eine klare Minderheit sind. Alina Kats, Anwältin für Einwanderungsrecht, sagt: „Die meisten Fälle scheitern, weil sie schlecht vorbereitet sind. Seit Herbst 2024 fechten Regierungsanwälte über 90 Prozent der zugesprochenen Asylanträge an.“ Ihr „Detentions Project“ hilft Familien, die getrennt wurden. Es organisiert kostenlose Übersetzungen, vermittelt Beratungen, stellt Verbindungen her. Aber sie sagt auch: „Das reicht nicht. Familien mit Kindern sind am verletzlichsten. Oft kommen sie nie wieder zusammen.“ Und sie sagt jenen Satz, der bleibt: „Wenn du in den USA Asyl beantragen willst – bereite dich auf alles vor. Du brauchst keinen Mut. Du brauchst einen Plan.“

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