Kyle of Lochalsh – Spät am Abend stehen fünf Männer in der Halle von Scot West Seafoods. Das Licht ist hart, die Luft riecht nach Salz und Metall. Sie sortieren lebende Langustinen, schieben sie in weiße Boxen aus Styropor, kleben Etiketten darauf: Lyon, Genua, Barcelona. Draußen weht Wind vom Atlantik herein, die Möwen kreisen über dem Kai, und der Betriebsleiter, Xohan Dios, sagt mit einem stillen Lächeln: „Das Einzige, was wir brauchen, sind Menschen.“ Menschen – sie sind der neue Rohstoff der Highlands. Während in London populistische Parteien mit Deportationsplänen punkten, während Premierminister Keir Starmer die Einwanderung deckeln will, fehlen im Nordwesten Arbeiter, Pfleger, Lehrer, Handwerker. Die Werkshalle in Kyle of Lochalsh, unweit der Brücke zur Isle of Skye, könnte doppelt so viele Beschäftigte haben, sagt Dios. Doch das Unternehmen musste die Verarbeitung von Garnelen einstellen, überlegt, das Verpacken ganz nach Glasgow zu verlegen – vier Stunden südlich, dorthin, wo es noch Menschen gibt.

In ganz Großbritannien, wie in vielen westlichen Ländern, wächst die Abwehr gegen Zuwanderung. Nigel Farages Reform U.K. überholt in Umfragen die Labour-Partei und verspricht, 600.000 Migranten zu deportieren. Aus Angst vor dem rechten Aufstand verschärft Starmer selbst die Rhetorik – und verschließt damit die Tür, die Orte wie Kyle of Lochalsh dringend offenhalten müssten. Denn während das Land insgesamt wächst, bluten die Ränder aus. Dörfer entleeren sich, Schulen schließen, Pflegeheime suchen Personal wie nach einer verlorenen Generation. Schottlands Regierungschef John Swinney sprach schon im Frühjahr von einer „signifikanten Bedrohung für den Wohlstand des Landes“. Die alternde Bevölkerung, sagte er, könne ohne Zuwanderung nicht versorgt werden. Torcuil Crichton, Labour-Abgeordneter für die westlichen Inseln, forderte sogar spezielle Arbeitsvisa für entlegene Regionen. Sein Satz klingt wie ein stiller Protest gegen Westminster: „Das ganze ländliche Schottland steht vor einer Entvölkerungskrise.“

Crichton erzählt von Fabriken, die nicht mehr rundlaufen, von Restaurants, die nur noch vier Tage öffnen, weil kein Personal zu finden ist. Die Wirtschaft, sagt er, „läuft in manchen Sektoren auf halber Geschwindigkeit“. Seit 2011 hat die Bevölkerung der Western Isles um 5,5 Prozent abgenommen – 26.200 Menschen leben dort noch. Junge Familien ziehen weg, weil es keine Kinderbetreuung gibt. 147 ländliche Schulen sind seit 2007 geschlossen worden. Die Ursachen sind verwoben: zu wenige Wohnungen, zu schlechte Verkehrsverbindungen, zu wenig medizinisches Personal. Die Pandemie hat viele zurück in ihre Herkunftsländer gezogen, der Brexit den Zugang zu europäischen Arbeitskräften gekappt. „Alle suchen Mitarbeiter“, sagt Dios. „Hoteliers, Restaurantbesitzer, Fischer – alle.“

Brexit, so unscheinbar er in den Statistiken wirkt, hat in den Tälern und Buchten der Highlands eine Schneise hinterlassen. Das Ende der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat den Arbeitsmarkt verengt, während Tourismus und Fischerei weiter Menschen brauchen, die bleiben. Die Zahl der Neuankömmlinge von außerhalb Europas stieg zwar nach 2020 kurzfristig auf fast 900.000, doch nach politischen Kürzungen sank sie bis 2024 auf weniger als die Hälfte. Swinneys Regierung in Edinburgh hat kaum Macht, das zu ändern. Gesundheit, Verkehr, Steuern – ja. Migration – nein. London kontrolliert die Grenzen und mit ihnen das Schicksal der Regionen. Der Plan, eine „rurale Arbeitsvisa-Pilotzone“ einzuführen, scheiterte an Westminster. Innenministerin Seema Malhotra erklärte, es gebe „derzeit keine rechtliche Grundlage“ für eine solche Lösung.

Die Ironie: Reform U.K., einst in Schottland verhasst, kommt mittlerweile auf rund 20 Prozent Zustimmung. Die Stimmung kippt, doch nicht überall. Auf den Inseln von South Uist bis Barra halten sich jene, die geblieben sind, aneinander fest. Sheila Peteranna, die das Borrodale Hotel führt, lacht müde, wenn man sie nach Nachwuchs fragt. „Die Jungen wollen nicht hier leben“, sagt sie. „Sie wollen zu Konzerten, zu Spielen, einfach raus – alles, was junge Leute tun.“ Ihre eigenen Kinder zieht es aufs Festland.

Der Fährverkehr von Uig nach Lochmaddy ist unzuverlässig, Ärzte sind rar, Wohnungen unbezahlbar. Für fünf Landärzte musste die Inselverwaltung Gehälter von bis zu 160.000 Pfund anbieten – das Doppelte des Üblichen. Und selbst dann bleiben Stellen oft unbesetzt. Auf der Isle of Skye erzählt Andrew Powrie, ein Mitarbeiter von Scot West Seafoods, dass selbst Einheimische kaum mehr Eigentum erwerben können. „Für uns ist das fast unmöglich“, sagt er. „Alles geht an Touristenvermieter. Für Einheimische ist es ein Albtraum.“ Junge Leute, fügt er hinzu, „gehen nach Glasgow, Edinburgh oder Aberdeen – dort, wo es Arbeit und ein Leben gibt.“ Zwischen den Nebelbänken der Highlands zeigt sich die Zukunft eines Landes, das zu lange geglaubt hat, Menschen seien austauschbar. Die leeren Häuser, die stillen Klassenzimmer, die geschlossenen Dorfkneipen – sie sind nicht Folge eines Strukturwandels, sondern eines politischen Irrtums. Während England sich abschottet, weiß der Norden: Ohne Einwanderung verliert er nicht nur seine Arbeitskräfte, sondern auch sein Herzschlag.
„Das Einzige, was wir brauchen, sind Menschen“, hatte Xohan Dios gesagt. Vielleicht ist das der einfachste Satz in einer komplizierten Debatte. Wenn die AfD in Deutschland irgendwann in Regierungsverantwortung käme, wäre es neben der gleichen Fragestellung, wie in Schottland, kein Politikwechsel, sondern ein Kulturbruch. Sie würde spalten, wo schon Gräben sind, und vertreiben, was dieses Land am dringendsten braucht: Menschen, Offenheit, Bildung, Vertrauen. Die, die bleiben, würden leiser. Die, die gehen, wären die Falschen. Ganze Regionen – vom Erzgebirge bis zur Uckermark – könnten so aussehen wie die leeren Täler in Schottland: überaltert, verbittert, zurückgelassen.
Doch auch ohne die AfD kann ein Land in den Stillstand geraten. Wenn Merz und Dobrindt die Richtung der CDU/CSU weiter bestimmen, wird aus der Angst vor der AfD eine Kopie ihrer Politik. Statt Mut zur Realität zeigen sie Misstrauen gegen Menschen. Sie reden über Migration, als wäre sie ein Sicherheitsrisiko, nicht die Chance, die sie ist. Die Partei, die einst den Wiederaufbau mitgestaltete, setzt heute auf Abwehr, wo Offenheit nötig wäre. Es ist eine Politik der geschlossenen Fenster – und des langsamen Erstickens. Während in Schottland Arbeitskräfte fehlen, werden hierzulande Fachkräfte abgeschreckt. Wer kommt, soll dankbar sein, wer bleibt, wird misstrauisch beäugt. So entsteht kein Schutz, sondern Stillstand. Deutschland redet über Integration, aber betreibt Ausgrenzung. Es redet über Fachkräftemangel, aber baut die Hürden höher. Zu viel Taktik, zu wenig Richtung. Zu viel Misstrauen, zu wenig Vernunft. Das Ergebnis ist ein Land, das Modernisierung predigt und Migration bekämpft – und dabei beides verliert.

Die Bürokratie ist längst ein Feind im eigenen Haus. Wer in Deutschland etwas aufbauen will, verliert Wochen im Formulardschungel. Wer eine Solaranlage anmelden will, verzweifelt an Paragrafen. Der Staat hat sich in seiner eigenen Ordnung verheddert. Er müsste sich selbst deregulieren, wenigstens vorübergehend, um wieder atmen zu können. Das Gesundheitssystem funktioniert nur noch, weil Menschen an ihre Grenzen gehen. Pflegekräfte arbeiten bis zum Zusammenbruch, Hausärzte verschwinden vom Land, Kliniken schließen Stationen. Dieses System ist kein soziales Netz mehr, sondern ein dünner Draht, auf dem Millionen balancieren. Es müsste von Grund auf neu gedacht werden – nicht reformiert, sondern rekonstruiert. Digitalisierung darf kein Projekt mehr sein, sondern eine Haltung. Deutschland braucht kein weiteres Strategiepapier, sondern Geschwindigkeit. Es reicht nicht, WLAN in Zügen zu versprechen, während Ministerien noch faxen. Wer jetzt nicht aufholt, verliert – nicht in Jahren, sondern in Monaten. Beim Klimaschutz spielt das Land weiter auf Zeit, als wäre die Erde ein Verhandlungspartner. Die Wahrheit ist einfacher: Ohne radikale Veränderung verliert Deutschland nicht nur Wälder und Küsten, sondern auch Glaubwürdigkeit. Klimaschutz ist keine Moralfrage, sondern Selbstschutz.

Die Schulen sind oft zu alt, ihre Strukturen noch älter. Kinder lernen teilweise in Räumen, in denen schon ihre Großeltern gelangweilt waren. Lehrpläne müssen überdacht werden. Bildung müsste neu anfangen – ohne Ideologie, aber mit Mut. Die Hürden an den Hochschulen müssen steigen, damit das Handwerk automatisch neue Stärke entwickeln kann. So entsteht ein Gleichgewicht, das dieses Land mehr und mehr verliert – zwischen Wissen und Können, Denken und Machen.
Die nächsten zwölf Monate werden zeigen, wohin dieser Weg führt – in Schottland wie in Deutschland. Ob es gelingt, das Ruder zu halten, bevor die Demografie, die Wut und die politische Trägheit alles mit sich reißen. Schottland kämpft um Menschen, Deutschland um Richtung. Beide stehen vor der gleichen Frage: Wer gestaltet die Zukunft – jene, die Angst haben, oder jene, die sie anpacken. Und während Amerika seinen Schatten weiter über Europa wirft, wird sich zeigen, ob Deutschland ihn noch abwehren kann – oder längst darunter lebt.
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Demnächst sind wir schlauer, ob wir klüger waren und darob glücklich(er) sein werden, wird sich zeigen. Danke für diesen Vergleich mit einem Land(strich), der sonst gerade hier unerwähnt bleiben würde und deswegen umso bemerkenswerter und nachdrücklicher, eindrücklicher ist!
…vielen dank, ja, es wird interessant zu sehen sein … und wir werden Schottland im Blickwinkel haben