Es beginnt mit einem Satz, der klingt wie aus einer fremden Zivilisation: „Russland zerstört strategisch wichtigen Kindergarten in Charkiw.“ Der Text – eine vermeintliche Satire des deutschen Magazins Der Postillon – trägt alle Merkmale des kalten Witzes, den wir im Westen längst kultiviert haben: Ironie, Distanz, die sichere Pose moralischer Überlegenheit. Er will schockieren, aber er enthüllt etwas anderes – die Entfremdung.
„Das russische Militär hat am Mittwoch erfolgreich einen strategisch wichtigen Kindergarten in der ukrainischen Stadt Charkiw mit einem Drohnenangriff zerstört.“ „Von diesem Kindergarten wird kein Stuhlkreis, Bauklötzespielen und Basteln mehr in Richtung Russland ausgehen.“ Nach dem Beschuss entstandene Bilder zeigen starke Zerstörungen an dem Gebäude. Ob einzelne Spielsachen noch einsatzfähig sind, ist derzeit unklar. „Lassen Sie das eine Warnung an alle Ukrainer zwischen 2 und 6 Jahren sein.“ Diesen Schrott fondet man unter:
Das sind keine Witze. Das ist das Geräusch einer Gesellschaft, die das Mitgefühl verlernt hat. Eine Kultur, die den Krieg in ihr Feuilleton importiert, um ihn dann zwischen Ironie und Bequemlichkeit zu zerlegen. Denn hinter dieser erbärmlichen Satire steckt ein Automatismus von Dummheit, den man inzwischen überall spürt – in den Kommentarspalten, den Late-Night-Shows, den Memes und Chatgruppen: das Bedürfnis, das Unbegreifliche durch Spott likebar zu machen. Der Witz wird zur Rüstung, das Gelächter zur Mauer. Und während die Pointe durch die Timelines geistert, liegen in Charkiw echte Leichen unter Betonplatten.

Einer der Kommentatoren schrieb: „Sarkasmus ist der Humor, der bleibt, wenn die Tränen einem die Kehle zuschnüren.“ Aber die Wahrheit ist härter. Sarkasmus ist längst die bequeme Maske einer Gesellschaft geworden, die nichts mehr fühlen will. Unter dem Beitrag stritten sich Fremde über Ironie, über Netanjahu, über den 7. Oktober – alles in einem Strom aus digitalem Rauschen, der nichts heilt, nichts versteht. Man darf über Krieg lachen, sagen die Verteidiger der Satire. Aber das ist falsch. Man darf über Macht lachen, über Lügen, über Tyrannen – nie über die Trümmer, die sie hinterlassen. Ein zerstörter Kindergarten in der wirklichen Welt, ist kein Symbol, keine Sprachfigur keine literarische Requisite. Er ist das, was er ist: verbrannte Haut, geschmolzene Plastiktiere, das schrille Schweigen nach einem Einschlag.
Das Stück hätte Putins Zynismus entlarven können – es hätte zeigen können, wie Propaganda ihre eigene Sprache frisst. Stattdessen wählte es die bequemere Form der Verachtung: die Parodie auf den Schmerz anderer. Es ist nicht Satire, es ist Selbstgefälligkeit. Der Versuch, moralisch klug zu wirken, ohne moralisch beteiligt zu sein, fiel komplett in die Wolga.
Wer je in Charkiw war, weiß, wie falsch dieser Ton ist. Wir erinnern uns an den Geruch verbrannter Möbel, an die feuchten Keller, in denen Unterricht stattfindet, an die Stimmen von Kindern, die beim Sirenengeheul die Luft anhalten. Wenn man das gesehen hat, weiß man: Der Krieg ist kein Stoff. Er ist keine Maske für Ironie. Und vielleicht ist das die eigentliche Tragödie – dass wir im Westen glauben, es sei mutig, über Krieg zu lachen, während die Mutigen längst dort sind, wo niemand mehr lacht.
Wir laden die Autorinnen und Autoren solcher Texte ein, uns das nächstemal begleiten. Fahren Sie mit uns nach Charkiw, nach Slowjansk, nach Saporischschja. Sehen Sie, was passiert, wenn „strategisch wichtige Kindergärten“ nicht bloß Worte sind. Riechen Sie, wie der Staub schmeckt, wenn er sich auf Kinderkleidung legt. Dann schreiben Sie Ihre Satire noch einmal.
Vielleicht lachen Sie dann anders. Oder gar nicht mehr.
„Charkiw, 22. Oktober 2025 – Bei einem russischen Drohnenangriff wurde in der ostukrainischen Stadt Charkiw ein Kindergarten getroffen. Nach Angaben der Behörden befanden sich zum Zeitpunkt des Einschlags 48 Kinder in dem Gebäude, die rechtzeitig in einen Schutzraum gebracht werden konnten. Ein Erwachsener kam ums Leben, mehrere Kinder wurden verletzt. Die Einrichtung im nördlichen Stadtteil stand vollständig in Flammen, als Rettungskräfte eintrafen. Der Angriff gilt als einer der schwersten auf zivile Infrastruktur in diesem Monat.“
Und das findet ihr tatsächlich würdig für eine Satire, ihr Sofakameraden vom Postillon? Erbärmlich.
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Gut geschrieben, Rainer, Respekt dafür und volle Zustimmung für den Inhalt 👍
Ich danke Dir
Zum ersten Mal, seit ich dir folge, Rainer, bin ich anderer Meinung als du.
Über wessen Witze man lacht, hängt ganz wesentlich damit zusammen, wie gut man jemandem vertraut und wie gut man seine Werte und sein Weltbild kennt. (Bei einem guten, langjährigen Bekannten lacht man auch schon mal über einen Witz, den man bei jemand anderem für absolut geschmacklos halten würde.)
Ich kenne den Postillon seit seiner Gründung im Jahre 2008 und ich habe im Laufe der Jahre das Vertrauen gewonnen, weil sich dort meines Wissens NIE sensationsheischend über menschliches Leid lustig gemacht wurde.
Auch den hier erwähnten Postillon-Artikel sehe ich als bitterböse und sarkastisch an, aber er entlarvt messerscharf Putins obszöne Skrupellosigkeit.
Dass du, Rainer, die Grenze bei Satire anders ziehst, wenn es um Tote und Verletzte geht, finde ich gut, das ehrt dich!
Dem Postillon zu unterstellen, dass er menschliches Leid gering schätzt, ist m.E. aber eine falsche Sicht!
Das ist vollkommen in ordnung, dass Du das anders sieht, es sind die Sichtweisen, a) wir haben einen Ukrainer hier, der grade durch die decke geht und den Bildschirm angespuckt hat, b) wenn man es live gesehen hat, ist die Sicht auf diese „Art“ Satire eine etwas andere. Trotzdem soll jeder seine Meinung haben, und das ist gut