Aus unseren Russland-Recherchen: Die unsichtbaren Schwachstellen – Warum Russlands Raketen von EU- und US-Schlüsselchemikalien abhängen

VonRainer Hofmann

Dezember 17, 2025

Russlands Rüstungsindustrie präsentiert sich gern als autark, als geschlossenes System, das aus eigenen Rohstoffen und eigener Technologie gespeist wird. Diese Erzählung hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Hinter der Fassade der Eigenproduktion existieren empfindliche Abhängigkeiten, die tief in die chemisch-technischen Prozesse reichen. Es sind keine spektakulären Bauteile, keine leicht sichtbaren Hightech-Komponenten, sondern Katalysatoren, Zusatzstoffe, Kunstharze und Spezialanlagen, ohne die zentrale Produktionsschritte nicht funktionieren.

Besonders deutlich wird das bei Treibstoffen für Raketen und Flugkörper. Deren Herstellung beruht auf komplexen chemischen Umwandlungen wie Hydrierung, Cracken und Reforming. Diese Prozesse sind ohne präzise abgestimmte Katalysatoren nicht möglich. Ein prominentes Beispiel ist der hochkalorische Treibstoff Decylin-M, der in Marschflugkörpern vom Typ Oniks, Kalibr und Ch-101 eingesetzt wird. Produziert wird er im Versuchswerk Redkino in der Region Twer. Die Anforderungen an diesen Treibstoff sind so spezifisch, dass ein Austausch durch Alternativen als riskant gilt. Hergestellt wird Decylin-M aus Dicyclopentadien, katalytisch, mit Verfahren, die auf Materialien angewiesen sind, die Russland lange Zeit aus dem Westen bezog. Im Produktionsprozess kann ein Kationenaustauscherharz wie Purolite CT-175 zum Einsatz kommen, ein Produkt des US-Unternehmens Ecolab. Solche Stoffe lassen sich nicht einfach ersetzen, weder qualitativ noch kurzfristig.

Noch deutlicher zeigen sich die Abhängigkeiten in der Gaschemie. Methanol, ein Grundstoff für zahlreiche industrielle Anwendungen, wird in Russland traditionell aus Methan gewonnen. Bis vor Kurzem setzten russische Anlagen dabei bevorzugt auf Katalysatoren des dänischen Herstellers Haldor Topsoe. Diese Technik galt als Maßstab für Effizienz und Stabilität. Ähnlich sieht es bei der Ammoniakproduktion aus, die für Russland von besonderer Bedeutung ist. Ammoniak ist die Grundlage für Harnstoff, Salpetersäure und zahlreiche weitere Produkte. Für die Rüstungsindustrie ist vor allem Salpetersäure entscheidend, da sie für nahezu alle Explosivstoffe benötigt wird.

Noch 2021 sollten neue Produktionslinien beim Chemiekonzern TogliattiAzot durch das Schweizer Unternehmen Casale errichtet werden. Aufgrund der politischen Lage verzögerte sich der Start bis 2023. Parallel dazu wurde Ammoniakkapazität gemeinsam mit KuibyshevAzot aufgebaut, umgesetzt von MET Development, einer Tochter des italienischen Konzerns Maire Tecnimont, mit Lizenztechnik von Stamicarbon. Diese Projekte zeigen, wie stark russische Schlüsselindustrien selbst in jüngster Zeit auf westliche Planung, Ausrüstung und Verfahren angewiesen waren.

Nach Beginn der Sanktionen hat Russland versucht, diese Abhängigkeiten zu verringern. Teilweise mit Erfolg, teilweise mit erheblichen Risiken. In einigen Fällen wurden Technologien nachgebaut oder auf Basis früherer Lizenzen repliziert. So gelang es beim Bau einer neuen Produktionslinie in Nischnekamsk, einen ursprünglich italienischen Ofenreaktor für die Wasserstoffproduktion nachzubilden, der auf Technik von Haldor Topsoe beruhte. Auch bei Hydrocracking-Anlagen meldeten russische Unternehmen Fortschritte. In Ust-Luga wurde 2024 ein Hydrocracking-Reaktor installiert, zuvor hatte Nischnekamsk entsprechende Kolonnen aus Indien bestellt. Im Sommer 2025 meldete die staatliche Nachrichtenagentur TASS, dass Tatneft eine zweite Hydrocracking-Einheit in der Raffinerie Taneko in Betrieb genommen habe.

Doch gerade hier liegen die größten Risiken. Cracking-Anlagen müssen extremen Bedingungen standhalten: hohem Druck, hohen Temperaturen und langfristiger Wasserstoffeinwirkung, die selbst hochwertige Stähle spröde machen kann. Die Herstellung solcher Reaktoren erfordert Speziallegierungen, präzise Fertigung und jahrelange Erfahrung. Schon kleine Fehler können die Lebensdauer drastisch verkürzen. Fällt eine solche Anlage aus, lässt sie sich nicht kurzfristig ersetzen. Der Neubau kann Jahre dauern. Ohne funktionierendes Cracking ist eine Raffinerie nicht in der Lage, Treibstoffe mit hoher Oktanzahl in der geplanten Menge herzustellen. Für die zivile Wirtschaft ist das problematisch, für die militärische Logistik potenziell gravierend.

Russland hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass es improvisieren, nachbauen und umleiten kann. Doch diese Anpassungsfähigkeit hat Grenzen. Viele der entscheidenden Komponenten stammen aus hochspezialisierten Lieferketten, die sich nicht vollständig kopieren lassen. Die Abhängigkeit von westlicher Chemie, westlicher Verfahrenstechnik und westlichem Know-how ist kein Randphänomen, sondern ein strukturelles Problem. Es entscheidet nicht darüber, ob Raketen gebaut werden können, sondern darüber, wie zuverlässig, in welcher Stückzahl und mit welchem Aufwand.

Die eigentliche Schwäche liegt damit nicht in fehlenden Rohstoffen, sondern in den unscheinbaren Gliedern der Produktionskette. Katalysatoren, Reaktoren, Zusatzstoffe. Dinge, die man nicht auf Paraden zeigt. Dinge, die in offiziellen Verlautbarungen kaum vorkommen. Aber genau dort entscheidet sich, wie belastbar Russlands militärische Industrie auf Dauer wirklich ist.

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