Amerikas zerrissene Waffenfrage – Warum das oberste Gericht sich nicht rührt

VonRainer Hofmann

Juni 2, 2025

Es war ein leiser, aber bedeutungsvoller Moment an diesem Montag. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten entschied sich – mit ebenso viel Bedacht wie Signalwirkung – dazu, nicht einzugreifen. Zwei zentrale Fälle, die das Waffenrecht in Amerika betreffen, wurden von den Richterinnen und Richtern nicht zur Anhörung angenommen. Damit bleibt das Verbot halbautomatischer Sturmgewehre im Bundesstaat Maryland ebenso in Kraft wie die Beschränkung großer Munitionsmagazine in Rhode Island. In einer Nation, die vom politischen Sturm der Polarisierung erschüttert wird, wirkt solch ein Schweigen fast subversiv. Denn das Gericht hätte handeln können. Und doch beließ es alles beim Alten. Die konservative Mehrheit, die in der Vergangenheit das Waffenrecht erheblich ausgeweitet hatte – insbesondere mit dem richtungsweisenden Urteil New York State Rifle & Pistol Association v. Bruen im Jahr 2022 – zeigt sich nun uneins darüber, wie weit die zweite Verfassungsänderung tatsächlich reicht.

Drei konservative Richter widersprachen der Entscheidung. Allen voran Clarence Thomas, der in seinem leidenschaftlichen Einspruch forderte, dass das Verbot von AR-15-Gewehren überprüft werden müsse – der wohl meistverkauften Waffe des Landes. „Die Frage ist von kritischer Bedeutung für zig Millionen gesetzestreuer Bürgerinnen und Bürger“, schrieb er. An seiner Seite: Samuel Alito und Neil Gorsuch. Brett Kavanaugh wiederum erklärte, er unterstütze zwar das Zuwarten, halte aber das Urteil der unteren Instanz – das das Verbot bestätigte – für „zweifelhaft“ und kündigte an, dass das Thema in den kommenden Amtsperioden „nicht dauerhaft umgangen“ werden könne. Während die Ablehnung, den Fall anzunehmen, keine endgültige inhaltliche Entscheidung darstellt, sendet sie doch ein klares Signal: Der Supreme Court ist nicht bereit, mit voller Härte gegen bestehende Waffengesetze vorzugehen – zumindest nicht jetzt, nicht in dieser Konstellation.

Marylands Verbot war eine Antwort auf das Massaker an der Sandy Hook Elementary School im Jahr 2012, bei dem ein AR-15-Gewehr 20 Kinder und sechs Erwachsene tötete. In einem Urteil des vierten Bundesberufungsgerichts wurde das Verbot als „vereinbar mit dem zweiten Verfassungszusatz“ bestätigt. Richter J. Harvie Wilkinson III – ein Konservativer, nominiert von Ronald Reagan – schrieb: „Unsere Nation hat eine lange Tradition darin, extrem gefährliche Waffen zu regulieren, sobald ihr übermäßiger Schaden an der Gesellschaft sichtbar wird.“ Die Befürworter strengerer Waffengesetze feiern die Entscheidung als Etappensieg. Marylands Generalstaatsanwalt Anthony G. Brown erklärte, das Gericht habe „ein entscheidendes Gesetz bestätigt, das vermeidbare Tode verhindern hilft“. Ganz anders die Reaktion der Waffenlobby. Die Firearms Policy Coalition beklagte, dass der Supreme Court „das zweite Verfassungsrecht weiterhin als Grundrecht zweiter Klasse behandelt“ und forderte Donald Trumps Justizministerium auf, sich energischer für eine Revision einzusetzen.

Auch in Rhode Island bleibt ein Gesetz bestehen, das Munitionsmagazine mit mehr als zehn Schuss Kapazität verbietet. Das erste Berufungsgericht urteilte, diese Einschränkung beeinträchtige das Recht auf Selbstverteidigung „nicht wesentlich“. Zivile Selbstverteidigung erfordere „so gut wie nie eine schnelle, ununterbrochene Schussfolge von mehr als zehn Projektilen“. Auch dieses Gesetz war eine Reaktion auf die Zunahme von Amokläufen und schließt sich an Regelungen an, die auch Schalldämpfer oder panzerbrechende Munition verbieten. Und während das Gericht diese beiden Fälle nicht zur Anhörung zuließ, gab es grünes Licht für vier neue Verfahren, die in der kommenden Amtszeit behandelt werden sollen. Darunter ein Fall aus Illinois, in dem ein republikanischer Abgeordneter die Auszählung nachträglich eingegangener Briefwahlstimmen anfechtet – sowie eine Klage eines US-Soldaten, der bei einem Anschlag in Afghanistan schwer verletzt wurde und den beteiligten Militärdienstleister Fluor verklagt.

Ein drittes Verfahren betrifft Zwangsarbeit in einem privaten Abschiebegefängnis in Colorado. Und ein vierter Fall widmet sich der Frage, ob Polizisten ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl in Wohnungen eindringen dürfen, wenn sie eine Notlage vermuten. Neben diesen Fällen sorgte das Gericht mit einem weiteren Nein für Aufsehen – und für Enttäuschung. Es nahm auch nicht die Klage einer Schwarzen Stripperin aus Texas an, die zwei Clubs wegen rassistischer Diskriminierung verklagt hatte. Chanel Nicholson hatte argumentiert, sie sei über Jahre hinweg wiederholt abgewiesen worden, weil laut Management „zu viele schwarze Tänzerinnen“ im Dienst gewesen seien. Ein Bezirksgericht hatte die Klage abgelehnt – mit der Begründung, die erste Diskriminierung habe bereits 2014 stattgefunden, spätere Fälle seien nur „Folgen“ dieser Handlung gewesen.

Die Richterinnen Ketanji Brown Jackson und Sonia Sotomayor widersprachen dieser Sichtweise. Ihrer Meinung nach beginnt mit jedem neuen diskriminierenden Akt auch eine neue Frist für eine Klage. Doch sie blieben in der Minderheit. Und so hat der Supreme Court an diesem Montag wieder einmal nicht entschieden – und doch viel bewirkt. Nicht durch Worte, sondern durch das Gewicht des Schweigens. Ein Schweigen, das in einer Republik voller Gewalt Fragen hinterlässt, die sich nicht länger vertagen lassen.

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