Abgeschoben ins Nichts – Wie Iran Millionen Afghanen entrechtet und die Welt zusieht

VonRainer Hofmann

Juli 16, 2025

Sie kommen über eine Grenze aus Staub und Hitze, mit nichts als einer Plastiktüte, einem alten Rucksack, manchmal einem Kind auf dem Arm. Fast 20.000 Menschen täglich. Afghanen, die aus Iran vertrieben wurden wie Schatten, die man nicht mehr erträgt. Die Zahl ist erschütternd: Mehr als 1,4 Millionen seit Januar, über eine halbe Million allein nach dem Krieg mit Israel im Juni. Und am Ende dieser Straße liegt nichts – kein Zuhause, keine Hoffnung, keine Arbeit, kein Recht. Nur Afghanistan. Im westlichen Niemandsland, in Islam Qala, wo die Wüste beginnt und der Staat aufhört, stehen Zelte, Container, ein paar klapprige Busse. Mohammad Akhundzada, 61, lehnt an einem Stock, neben ihm seine Frau, seine vier Kinder, alle geboren in Teheran. „Ich habe 42 Jahre in Iran gearbeitet, meine Knie sind kaputt. Und jetzt das?“ fragt er. Seine Stimme ist leise, nicht mehr empört, nur leer.

Iran hat ein Jahrzehnte altes Flüchtlingsproblem – und eine neue Antwort: Deportation. Obwohl Millionen Afghanen das Rückgrat der iranischen Niedriglohnarbeit bilden, hat Teheran angekündigt, sämtliche Undokumentierte abzuschieben. Nach dem Krieg mit Israel setzte es eine Frist, dann kam die Jagd: Checkpoints, Razzien, willkürliche Festnahmen. Nicht selten folgten Misshandlungen, Drohungen, Ausweisvernichtung. Einige wurden verdächtigt, für Israel zu spionieren – ein Vorwurf ohne Beweise, dafür mit Wirkung: die Angst der Bevölkerung gegen die Wehrlosesten zu wenden. Es sind Berichte wie jener von Ebrahim Qaderi, dem auf dem Weg zur Arbeit das Handy abgenommen und die Hand mit einem Messer aufgeschlitzt wurde – nur weil er Afghane ist. Seine Mutter sagte, vier iranische Krankenhäuser hätten ihn abgewiesen. Ein anderer, Ali, mit legalem Aufenthalt, schilderte, wie ein Beamter ihm den Ausweis zerriss – mit den Worten: „Was willst du machen? Du kommst ins Abschiebelager.“

Die Rückkehr ins eigene Land gleicht einem Verstoßenwerden aus beiden Welten. Afghanistan, seit der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 in einem Zustand der Erstarrung, hat keinen Platz für die Zurückgekehrten. Die Behörden registrieren Fingerabdrücke, verteilen etwas Bargeld, verweisen auf überfüllte Lager. Manche erhalten zwei Zelte in einem Park. Andere schlafen unter Bäumen. Die Gesundheitsversorgung ist kollabiert, mehr als 400 Kliniken mussten schließen. Hilfsorganisationen decken nur noch ein Fünftel des Bedarfs. Und für Mädchen endet die Schule spätestens nach der sechsten Klasse. Für Familien wie die Mosavis ist das eine existenzielle Katastrophe. Die Tochter Nargis, 14, musste ihre Schulbildung abbrechen. Ihr Bruder Ali Akbar, 13, trug einen zerbeulten Fußball, ein Paar Kopfhörer, die letzten Bruchstücke eines Lebens, das es nicht mehr gibt. Als er auf der Fahrt nach Herat bemerkte, dass er sein Handy verloren hatte – das Einzige, womit er noch persische Musik hören konnte –, begann er zu weinen. Die Familie musste in ein Zeltlager für 5.000 Menschen, der Vater sprach von einer Reise „ins Unbekannte“, zurück in die Heimatprovinz Helmand, von der sie nicht einmal wissen, ob es dort ein Haus gibt. Iran rechtfertigt sich mit Ressourcenmangel – und schiebt gleichzeitig die Schuld für eigene Sicherheitslücken auf die Vertriebenen ab. Doch die Wahrheit ist komplexer: Jahrzehntelang hat Iran von afghanischen Arbeitskräften profitiert – ohne Integration, ohne Rechte. Nun, in einer Phase geopolitischer Instabilität, werden sie geopfert. Und die Welt? Sie schaut zu.

Auch Europa. Auch Deutschland. Im Juni 2025 stiegen wieder die Abschiebungen nach Afghanistan, offiziell unter Berufung auf „Rückkehrverabredungen mit sicheren Regionen“ – ein Euphemismus für das Wegschauen. Besonders die AfD hat sich darauf spezialisiert, Afghanen als Sicherheitsrisiko zu markieren. In Talkshows, in Wahlkampfreden, in Gesetzesvorschlägen. Wer Flucht, Elend, strukturellen Ausschluss nicht sehen will, konstruiert Bedrohungen. Menschen, die von Iran misshandelt und in Afghanistan entrechtet werden, müssen dann auch noch die Reise ins politische Kalkül überstehen. Afghanistan ist kein Ziel. Es ist ein Ort, an dem der Horizont sich schließt. Und in Islam Qala stehen Menschen an der Schwelle – zu nichts. Sie warten auf Busse, auf Stempel, auf Antworten, die niemand gibt. Wir können nicht alle retten. Aber wir können helfen. Aktuell unterstützen wir in diesem Fall das Afghan Refugee Movement sowie das Afghan Women’s Network Europe – zwei Initiativen, die sich unermüdlich für Schutz, Sichtbarkeit und konkrete Hilfe einsetzen. Ihre Arbeit beginnt dort, wo die Welt längst weggesehen hat.

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Ela Gatto
Ela Gatto
2 Monate zuvor

An welches Land erinnert mich das?
Undokumentierte einfach Abschiebung.
Ohne Rechte ….

Und wie reagiert die Welt da?

Genau!
Das gleiche donnernde Schweigen.

Katharina Hofmann
Admin
2 Monate zuvor
Reply to  Ela Gatto

Leider, deswegen werden wir darauf aufmerksam machen und mit Kollegen der Gulf News mehr recherchieren

Claudia Wielander
Claudia Wielander
2 Monate zuvor

Welch ein Wahnsinn! Es betrifft auch anerkannte Afghanen bei uns. Die Mutter nach Kabul abgeschoben. Die Verlobte mit Familie, die Kinder, die Afghanistan nicht kennen, nun in Kabul 1 Zimmer.
Es gibt weder Wohnraum, noch Arbeit, keine Strukturen, keine Bildung, keine Frauenrechte. Plötzlich im Mittelalter gefangen.

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