„Ich konnte nicht hören, ich konnte nicht sprechen – und sie nahmen mich einfach mit“ – Der Fall Javier Diaz Santana, das Versagen eines Systems und der Kampf um ein Happy End

VonRainer Hofmann

Juli 23, 2025

Am frühen Morgen des 12. Juni 2025 ging Javier Diaz Santana nichtsahnend seiner Arbeit nach. Der 32-Jährige war auf dem Weg, ein Auto zu waschen, als er sah, wie Kollegen plötzlich in Panik auseinanderliefen. Eine Frau bedeutete ihm, zu fliehen. Er verstand nicht, warum. Er konnte die Rufe nicht hören – denn Javier ist taub und stumm. Sekunden später kletterte er, humpelnd und mit schmerzendem Fuß, über eine Mauer hinter dem Waschzentrum im San Gabriel Valley. Er kam nur eine Straße weit, bis zwei weiße SUVs seinen Weg blockierten. Männer in Westen mit der Aufschrift „HSI“ – Homeland Security Investigations – stiegen aus, bewaffnet, maskiert. Sie schrien. Javier konnte sie nicht hören. Er hob die Hände, zeigte auf seine Ohren. Es half nichts. Sie nahmen seine Brieftasche, dann sein Handy. Schließlich legten sie ihm Handschellen an, so eng, dass sie Spuren hinterließen. Kommunikation war nicht mehr möglich. Javier ist DACA-Empfänger. Er kam im Alter von fünf Jahren aus Mexiko in die USA, besitzt eine gültige Arbeitserlaubnis, hat keine Vorstrafen, spricht Amerikanische Gebärdensprache und war an diesem Morgen ganz legal auf dem Weg zur Arbeit. Doch ICE interessierte das nicht. Was folgte, war eine fast einmonatige Odyssee durch das Herz einer Verwaltung, die nicht nur sprachlos auf Behinderung reagierte, sondern auf Recht schlicht verzichtete. Diaz wurde in ein SUV gestoßen und abgeführt – ohne Erklärung, ohne Übersetzer, ohne Chance, sich mitzuteilen. Auf dem Handy eines Beamten blinkte später die Frage: „Aus welchem Land kommen Sie?“ Javier konnte nicht antworten. Seine Hände waren gefesselt.

Was er nicht wusste: Er war in ein großangelegtes Deportationsprogramm geraten – Teil einer ICE-Offensive unter Präsident Trump, die DACA-Empfänger, (DACA – „Deferred Action for Childhood Arrivals“ – ist ein von Präsident Obama eingeführtes Schutzprogramm für junge Migrant:innen, die als Kinder in die USA kamen. Es gewährt ihnen unter bestimmten Bedingungen eine Arbeitserlaubnis und Schutz vor Abschiebung), ebenso traf wie Menschen mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung. Diaz wurde am 15. Juni – seinem ersten Flug überhaupt – nach Texas verbracht, in Handschellen. Im Abschiebezentrum in El Paso kam er in Einzelhaft. Er durfte Papier und Stift nutzen, um „zur Toilette“ zu schreiben. Die Tage vergingen in Isolation. Keine Untertitel beim Fernsehen. Keine Kommunikation. Kein Kontakt zu seiner Familie, die verzweifelt nach ihm suchte. Als seine Anwältin Roxana Muro das zuständige ICE-Zentrum kontaktierte, erhielt sie zunächst keine Antwort. Erst als sie eine E-Mail mit dem Betreff „DEAF MUTE CLIENT DETAINED WITH DACA“ schickte, wurde man aufmerksam – doch da war Diaz schon längst auf dem Weg in die Haftzentrale von El Paso. Seine Geschichte ist nicht nur ein Einzelfall. Diaz ist einer von vielen Migranten mit legalem Schutzstatus, die in der gegenwärtigen Abschiebekampagne in den USA unter die Räder geraten. Und er ist besonders verletzlich – nicht nur, weil er gehörlos ist, sondern weil das System ihm jeden Raum zur Gegenwehr genommen hat. Bei seiner Anhörung am 2. Juli wurde er zum ersten Mal seit Wochen von einem Gebärdensprachdolmetscher unterstützt. Die Richterin war erstaunt: Der Fall sei administrativ geschlossen worden, Diaz habe keine Vorstrafen, sei kein Sicherheitsrisiko. Der DHS-Anwalt bestätigte sogar: Ja, er hat DACA. Warum also war er überhaupt festgenommen worden? Die Antwort gab seine Anwältin: „Weil sie sich nicht kümmern. Sie profilieren. Wer wie ein Mexikaner aussieht, wird mitgenommen.“ Diaz sei am Arbeitsplatz gewesen, völlig legal, als ICE zuschlug. Der Richter setzte die Kaution auf das gesetzliche Minimum von 1.500 Dollar. Muro zahlte. Am 8. Juli, dem Geburtstag seiner Mutter, wurde Javier freigelassen. Doch nicht ohne elektronische Fußfessel – und mit einem Informationsblatt in Spanisch, das er nicht lesen konnte.

Seine Rückkehr nach Los Angeles war ein 11-stündiger Autotrip durch Arizona und New Mexico. Sein Bruder Miguel und ein Cousin holten ihn ab, das Flugzeug war ohne Ausweis keine Option. Diaz war verändert. Ruhig. Zurückhaltend. Fragte, ob er auf die Toilette dürfe. Ob er essen dürfe. Die Erfahrung hatte Spuren hinterlassen. Er trug das schwarze Fußband wie ein Stigma. Als er schließlich vor dem Wohnhaus in South L.A. ankam, wo ihn seine Eltern erwarteten, war es Nacht. Die Nachbarn hatten ein Plakat gebastelt: „Welcome Home, Javier“ – auch in Gebärdensprache. Sein Vater stürmte die Treppe hinab. Seine Mutter wartete im Flur. Diaz wirkte abwesend, seine Arme schwer. Als er seine Mutter umarmte, liefen ihr die Tränen. Seine fast auch. Javier Diaz Santana ist wieder zuhause. Doch sein Fall bleibt ein Mahnmal: für das Versagen einer Bürokratie, die nicht sehen will, wer Mensch ist – und wer nur stört. Für einen Staat, der Recht beugt, wenn es politisch passt. Und für eine Gesellschaft, die nicht schweigen darf, wenn Schweigen zur Methode wird. Dass Diaz heute wieder bei seiner Familie ist, ist kein Geschenk des Systems – es ist das Ergebnis eines Kampfes. Eines Kampfes gegen die Stille, gegen die Gewalt, gegen ein Schweigen der Behörden, das viel lauter ist als jedes Wort. Ein Happy End – aber eines, das bitter bleibt.

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Ela Gatto
Ela Gatto
3 Monate zuvor

Esist unglaublich mit welcher Brutalität vorgegangen wird.

Es war innerhalb kürzester Zeit kein „illegale Kriminelle“ abschieben.
Es wurde zu „Illegale“ ohne kriminelle Akte, hinüber zu „uns doch egal ob Du eine legale Aufenthaltserlaubnis hast“ um letztlich bei „ist doch egal, dass Du US Bürger bist“ zu enden.
Ob eswirklich damit endet? Der nächste Schritt ist politische Gegner und unliebsame Personen zu deportieren.

Wir kennen das. Deutschland 1933
Und wie damals, schaut die Welt weg.

Danke, dass Ihr diesen Menschen eine Stimme gebt

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