Was man in Deutschland nicht weiß – Die vergessenen Amerikaner

VonRainer Hofmann

Juli 19, 2025

Veronica Taylor lebt in einem Haus aus Holz auf einem Hügel in McDowell County, West Virginia. Kein Arzt weit und breit, kein Bus, kein Taxi, kein Netz. Das Internet kennt sie nur vom Hörensagen. Einen Computer hat sie nie besessen – und wüsste auch nicht, wie man ihn einschaltet. Sie ist 73 Jahre alt, kann nicht mehr Auto fahren und verlässt ihr Haus nur selten. Wenn sie Glück hat, findet sich jemand, der sie zum Supermarkt fährt. Der Weg dauert eine Stunde, vielleicht mehr. Wenn sie Pech hat, bleibt sie daheim – wo es warm ist, wenn die Heizung anspringt, und leise, wenn keiner ruft.

Seit Jahren kämpft sie sich durch das, was vom amerikanischen Sozialstaat übrig ist. Doch nun soll sie etwas tun, das ihr unmöglich erscheint: Ab dem 31. März 2025 verlangt die Trump-Regierung von allen Sozialleistungsbeziehern, dass sie ihre Identität entweder online oder persönlich in einem weit entfernten Büro bestätigen. Ein Anruf genügt nicht mehr. Und E-Mail? Viele Menschen in ihrer Gegend haben keine – und selbst wenn sie wollten, würde es nichts nützen: In vielen Tälern von McDowell County gibt es schlicht kein Internet. Veronica sitzt an einem Tisch im Seniorenzentrum der Stadt. Vor ihr: grüne Bohnen, Mac’n’Cheese und frittierter Fisch. Um sie herum andere Rentner, viele älter als sie. „Wenn das der einzige Weg ist, wie ich das machen kann – wie soll ich das denn machen?“, fragt sie. Und ihre Stimme ist nicht trotzig, sondern ruhig. Wie eine Tatsache. „Ich würde nie irgendetwas erledigt bekommen.“

Was die Regierung als Maßnahme zur Betrugsbekämpfung und Effizienzsteigerung verkauft, ist für Menschen wie Veronica eine neue Barriere. Eine Einladung zur Resignation. Der Zugang zur Sozialversicherung wird nicht gestrichen – aber kompliziert. Und wer sich nicht zurechtfindet im Dschungel digitaler Anträge, Identitätsnachweise und Adressänderungsformulare, bleibt außen vor. Nicht, weil man ihm das Recht entzieht, sondern weil man es hinter eine Wand stellt, die er nicht überwinden kann. In Deutschland kennt man solche Orte nicht. Man kennt New York, man kennt Los Angeles, man kennt die Wahlkarten in rot und blau. Aber was unter der Oberfläche liegt – das vergisst man leicht. In McDowell County lebt ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Rund 30 % beziehen Sozialversicherungsleistungen. Und 20 % haben keinen Zugang zum Internet. Die lokale Zeitung gibt es seit Jahren nicht mehr. Auch das Radio ist verstummt. Die Brücken zur Welt sind gefallen – und niemand scheint es bemerkt zu haben.

Donald Reed, der Leiter der „Commission on Aging“, einer Non-Profit-Organisation, die zwei Seniorenzentren betreibt, sieht das Unheil auf sich zukommen. „Ich bin kein Trump-Gegner, wirklich nicht“, sagt er. „Aber ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit versteht, was diese Maßnahmen bedeuten.“ Reed erhält staatliche Mittel, um älteren Menschen Mittagessen, Arztfahrten oder den Weg zum Supermarkt zu ermöglichen. Auch ein Stopp beim Sozialversicherungsbüro wäre theoretisch möglich. Doch das Geld reicht schon jetzt nicht mehr. Im vergangenen Jahr musste Reed in den letzten drei Monaten auf die Rücklagen seiner Organisation zurückgreifen, um die Fahrten überhaupt noch anbieten zu können. Dieses Jahr wird das nicht mehr gehen. Und dann kam letzte Woche die Nachricht: Ein erwarteter Förderbescheid in Höhe von knapp einer Million Dollar wurde gestrichen. Wieder Kürzungen. Wieder Sparmaßnahmen. Wieder ein Schlag gegen jene, die ohnehin nichts mehr haben. Reed wollte mit dem Geld eines der Zentren sanieren – ein Doppelmobilheim aus den Achtzigern, mit rostigen Stühlen und einer kaputten Heizung. Jetzt bleibt es, wie es ist: überfüllt, alt, zu klein.

Doch es geht um mehr als Infrastruktur. Es geht um Würde. Um das Gefühl, nicht allein gelassen zu werden. Jeden Werktag treffen sich hier Dutzende Senioren. Sie spielen Karten, Bingo, essen gemeinsam. Es ist der letzte Ort, an dem noch gesprochen wird. An dem nicht alles digital ist. Und an diesem Tag, wird aus unserem Besuch eine politische Diskussion. Viele der Anwesenden sind Trump-Wähler. McDowell County hat ihn bei allen drei Wahlen unterstützt. Und doch spüren sie, dass etwas nicht mehr stimmt. „Ich versteh vieles nicht mehr“, sagt Brenda Hughes, 72. Sie geht normalerweise persönlich zum Sozialamt, weil sie telefonisch niemanden erreicht. Mary Weaver, gleichaltrig, ist noch deutlicher: „Er will Präsident sein – aber lässt sich von anderen sagen, wie man das Land führt?“, fragt sie mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen Trump und Elon Musk. Für sie ist klar: Die Kürzungen helfen McDowell County nicht. Sie zerstören das, was noch funktioniert. Und was sie zurücklassen, ist Unsicherheit. Andere sehen das anders. Barbara Lester, 64, sagt, sie würde Trump und Musk gerne persönlich danken. „Mit all dem Geld, das sie durch die Betrugsbekämpfung sparen, könnten sie uns Senioren ruhig eine Erhöhung geben.“ Ihre Worte wirken ehrlich. Vielleicht, weil Hoffnung manchmal das Letzte ist, was bleibt.

Für Veronica Taylor aber ist selbst Hoffnung eine Last geworden. Ihr Sohn starb mit 39. Ihre Tochter lebt in Roanoke, Virginia. Ihre Enkel sieht sie selten. Der Weg zum Sozialamt: sechs Meilen. Zu Fuß. Über kurvige Landstraßen. Sie sagt: „Wenn ich jemanden mehr als zweimal bitte, mich zu fahren, ist das wie betteln. Und ich bettle nicht. Nie.“ Doch genau das verlangt das neue System: dass man bittet. Dass man erklärt. Dass man sich rechtfertigt – für seine Armut, für seine Hilfsbedürftigkeit, für seine Lebensumstände. Dass man die eigenen Daten beweist, als wären sie nicht real, solange man sie nicht digital einträgt. Und wenn es regnet, oder stürmt, oder schneit – dann zeigt die App das Wetter. Aber nur, wenn man Empfang hat. Die Idee, dass der Staat für seine Bürger da ist, verblasst. Nicht mit einem Schlag. Sondern langsam, leise. Wie ein Sonnenuntergang über einem vergessenen Tal. In Deutschland gibt es Busse, Zeitungen, Nachbarn mit Autos. In McDowell County gibt es nur noch Erinnerungen daran.

Und während in den Bergen West Virginias die Struktur zerbröckelt, brennt weiter südlich, in Arizona, die Wüste – still, aber unübersehbar. Sun City war einst ein Symbol. Ein Rückzugsort für jene, die ihr Leben lang gearbeitet hatten. Golfcarts statt SUVs. Zeitung statt Tablet. Ruhe statt Chaos. Doch nun ist es ein Barometer. Der Kapitalismus, der hier einst für Stabilität sorgte, zeigt seine andere Seite. Unsichtbar war die Hand des Marktes – nun trägt sie ein Gesicht: Donald Trump. Susan Hemphill lebt hier, war früher Gewerkschafterin, hat Kamala Harris gewählt. Heute weint sie, wenn sie über ihr Erspartes spricht. Nicht aus Schwäche. Sondern aus Erschöpfung. Trump hat Zölle eingeführt, die Märkte verunsichert, den Handel attackiert. Die ETFs, in die sie investierte, verloren an Wert. Die Medikamente, auf die sie angewiesen ist, wurden teurer. Und der Bildschirm ihres Fernsehers zeigt kein Amerika mehr, das sie kennt.

Paul Estok sieht das anders. Er wählt Trump. Drei Rentenbezüge vom Staat, ein Sack Zwiebeln, den er in seinen Truck wuchtet. „Endlich sagt einer: Genug ist genug.“ Für ihn ist wirtschaftlicher Schmerz ein Preis für nationale Stärke. Für Karl Feiste, Vietnamveteran, ist es ein Warnsignal. 20 % Verlust nach der letzten Zollankündigung. „Nur auf dem Papier“, sagt er. Doch selbst Papier kann brennen. Hans Vinge war einst Republikaner. Heute glaubt er nicht mehr. „Es dauert zehn, fünfzehn Jahre, bis Firmen zurückkommen – Trump will es in einem Jahr.“ Sein Ruhestand verlor 23.000 Dollar – genug für ein Jahr ohne Sorgen. Oder ein gebrauchtes Auto. Eleanor McKinley, 78, war nie politisch. Doch jetzt kann sie nicht mehr schlafen. Ihre Ersparnisse hängen an asiatischen Lieferketten. Die Zölle stürzten den Fonds ab wie ein müder Vogel. Ihre Schwiegertochter ist wütend: „Was glauben die Leute, woher die scheiß Medikamente kommen? Aus Trumps Hühnerstall?“ Eleanor sagt nur: „Früher war der Präsident weit weg. Heute wohnt er in meiner Geldbörse.“ Und Robert Daniels, 81, sitzt auf seiner Veranda und starrt durch sein Jagdfernglas in die Richtung, wo er den Dow Jones vermutet. Früher glaubte er an den Markt. Heute glaubt er nur noch an den Zufall. „Vielleicht erleb ich das Comeback nicht mehr“, sagt er. Er hat nie gewählt. Doch diesmal spürt selbst er: Etwas kippt.

Die Zahlen sind trocken. Die Realität nicht. Jeder Punkt, den der Dow fällt, lässt ein Herz schneller schlagen. Jede Sozialversicherungszahlung, die zu spät kommt, verlangsamt die Zeit. Die Menschen horten ihre Steuererstattung. Sie kaufen keine Träume mehr, sondern Vorräte. Und die Regierung wirkt nicht mehr wie ein Garant – sondern wie ein Gegner. George Orwell hätte dieses Land beschrieben: Als eine Gesellschaft, die ihre Alten vergessen – und das Zuhören verlernt hat. Und die sich dann wundert, wenn das Vertrauen versiegt. Was bleibt, ist ein Satz. Ein Flüstern. Ein Wunsch. „Ich will einfach nur in Ruhe alt werden.“ Aber der Präsident hört es nicht.

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Frank
Frank
3 Monate zuvor

für die Trumpwähler hält sich mein Mitleid sehr sehr in Grenzen!

Ela Gatto
Ela Gatto
3 Monate zuvor

Und doch stehen die Meisten noch zu Trump.
Absolut unverständlich und dumm.
Anders kann man es bicht sagen.

Genau diese Stimmen haben Trump (unter anderem) zum Sieg verholfen.
Wer ihn gewählt hat, darf jetzt nicht über die Folgen jammern.

Die anderen Vergessenen tun mir sehr leid.
Sie haben keine Chance.

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