Der Fehler im System – Die Geschichte des Jose Hermosillo

VonRainer Hofmann

April 23, 2025

In den Vereinigten Staaten des Jahres 2025 reicht es, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, um entrechtet zu werden. Für Jose Hermosillo bedeutete das: zehn Tage Freiheitsentzug, zehn Tage Unsichtbarkeit, zehn Tage in der kalten Umarmung einer Maschine, die vorgibt, Amerika zu schützen – und doch seine eigenen Bürger verschlingt.

Jose Hermosillo ist 19 Jahre alt, US-Staatsbürger, wohnhaft in Albuquerque, New Mexico. Er ist ein junger Vater, kämpft mit Lernschwierigkeiten, spricht langsam, aber klar. In seinen Worten liegt keine Ideologie, nur das Bedürfnis, verstanden zu werden. Am 8. April wird er in Tucson, Arizona, festgenommen. Nicht wegen eines Verbrechens, sondern weil er nach einem epileptischen Anfall Hilfe suchte – ohne Ausweis, ohne Orientierung, mit der Hoffnung auf Mitmenschlichkeit.

Stattdessen stößt er auf einen Grenzbeamten. Und dieser, geschult in der Logik der Abschottung, sieht in dem jungen Mann nicht einen Hilfesuchenden, sondern einen Verdächtigen. „Du bist nicht von hier. Wo sind deine Papiere?“ – eine Frage, die wie ein Echo aus dunklen Kapiteln der Geschichte klingt. Als Hermosillo antwortet, er sei aus New Mexico, wird ihm nicht geglaubt. Der Beamte habe, so Hermosillo, gesagt: „Mach mich nicht für dumm. Ich weiß, dass du aus Mexiko kommst.“ Das Urteil war gesprochen, bevor irgendein Beweis vorlag.

Was folgt, ist der Eintritt in eine Schattenwelt. Hermosillo wird in das Florence Correctional Center gebracht, eine Einrichtung, die der Staat ausgelagert hat – privat betrieben, profitorientiert, entmenschlichend. Er teilt sich eine Zelle mit 15 anderen Männern, erhält nur kaltes Essen, wird krank. Medizin? Fehlanzeige. Kommunikation? Nur über einen Anwalt, den er nicht hat. Seine Rufe, er sei US-Bürger, verhallen ungehört. „Sag das deinem Anwalt“, lautet die kalte Antwort des Systems, das sich selbst genügt.

Das US-Heimatschutzministerium veröffentlicht wenig später ein Transkript eines angeblichen Gesprächs zwischen Hermosillo und einem Grenzbeamten. Darin soll Hermosillo zugegeben haben, illegal eingereist zu sein – ein Mexikaner ohne Dokumente. Das Dokument ist unterzeichnet – von „JOSE“. Doch Hermosillo kann nicht lesen. Seine Freundin Grace Hernandez erklärt, er könne gerade einmal seinen Namen schreiben. Warum hat er es dann unterschrieben? „Weil sie gesagt haben, ich soll alles unterschreiben.“ Eine Unterschrift als Ritual der Unterwerfung – nichts weiter.

Der Vorfall ist nicht einzigartig. Er ist exemplarisch. Die Maschinerie, die Hermosillo verschlang, ist blind gegenüber Kontext, Herkunft, Menschlichkeit. Ein System, das auf Befehl und Gehorsam basiert, auf vorgefertigten Annahmen und institutioneller Trägheit. Die Lüge wird zum Protokoll, der Irrtum zur Bürokratie.

Erst als Hermosillos Familie vor Gericht seine Geburtsurkunde vorlegt, wird er freigelassen. Zehn Tage Unsicherheit. Zehn Tage Isolation. Zehn Tage, die ein System nicht erklären kann – und auch nicht erklären will. John Mennell, Sprecher der Grenzpolizei, spricht von einem „versehentlichen Fehler“. So einfach. So entlarvend.

Seit seiner Entlassung lebt Hermosillo mit dem Trauma. „Wenn ich träume, träume ich, dass ich noch dort drin bin“, sagt er. Es ist der Satz eines jungen Mannes, der vom Staat nicht vergessen, sondern verraten wurde. Der nicht am Rand der Gesellschaft stand, sondern mittendrin – und dennoch gefallen ist.

In einer Zeit, in der die Grenzen nicht nur Länder, sondern Realitäten trennen, zeigt dieser Fall, wie fragil die Sicherheit der Zugehörigkeit geworden ist. Es genügt, nicht gelesen zu haben. Nicht gehört zu werden. Nicht zu passen in das Raster einer durch Angst deformierten Ordnung.

Jose Hermosillo hat überlebt. Doch das System, das ihn verschlang, lebt weiter. Und es sieht dich an.

Abonnieren
Benachrichtigen bei
guest
0 Comments
Älteste
Neueste Meistbewertet
Inline-Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
0
Deine Meinung würde uns sehr interessieren. Bitte kommentiere.x