Greifswald, die traditionsreiche Universitätsstadt an der Ostsee, steht politisch Kopf. Seit der Kommunalwahl 2024 herrscht in der Bürgerschaft ein Zustand, der an ein politisches Experiment erinnert – allerdings ohne Plan, ohne klare Linie und vor allem: ohne Mehrheit. Was hier derzeit geschieht, ist ein faszinierendes wie beunruhigendes Lehrstück über das Ende klassischer Lagerpolitik.
Eine Bürgerschaft zersplittert in Einzelteile
Mit 43 Sitzen ist die Greifswalder Bürgerschaft groß genug für Vielfalt – und offenbar klein genug für Unübersichtlichkeit. Zwar wurde die CDU mit 20,1 % erneut stärkste Kraft, doch kaum war der Wahlsieg verdaut, zerfiel die Fraktion. Der langjährige Vorsitzende Axel Hochschild trat aus, weitere Mitglieder folgten. Zurück blieb eine dezimierte Rumpf-CDU mit vier Sitzen – machtlos, führungslos, zerrieben zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Statt klarer Fronten prägt nun ein wildes Mosaik aus Mini-Fraktionen, Zählgemeinschaften und ideologisch kaum vereinbaren Partnerschaften die politische Landschaft. Regiert wird trotzdem – irgendwie.
Die neue Mitte – oder das neue Vakuum?
Im Zentrum des Geschehens: eine neue Fraktion, bestehend aus dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der Bürgerliste Greifswald. Fünf Abgeordnete, die sich ausdrücklich „nicht festlegen“ wollen. Links? Rechts? Hauptsache lokal. In ihren eigenen Worten: Man arbeite mit „beiden Seiten“ zusammen. Eine politische Bankrotterklärung oder pragmatische Realpolitik?
Die Meinungen darüber gehen weit auseinander.
Besonders brisant: Die Fraktion schließt eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht aus. Das BSW auf Bundesebene distanziert sich davon klar. Doch in Greifswald herrscht eine andere Logik – eine, die auf Inhalte statt Herkunft setzt, wie es heißt. Kritiker nennen es Beliebigkeit.
Die AfD als stiller Nutznießer
Sieben Sitze hält die AfD – nicht genug, um etwas zu bestimmen, aber genug, um vieles zu verhindern oder durchzusetzen, wenn andere mitziehen. Mit dem BSW und der Bürgerliste käme man bereits auf zwölf Stimmen. Keine Mehrheit, aber ein taktisches Druckmittel, das in einer zersplitterten Bürgerschaft Gewicht hat.
Eine formelle Koalition gibt es nicht – doch faktisch könnten bei Sachthemen Mehrheiten entstehen, bei denen man nicht mehr weiß, wofür oder wogegen man eigentlich gerade stimmt.
Die alten Kräfte: Machtverlust und Ratlosigkeit
Die Grünen, immerhin mit sechs Sitzen vertreten, stellen mit Dr. Stefan Fassbinder den Oberbürgermeister – ein erfahrener, bedächtiger Verwaltungschef, der sich nun im politischen Niemandsland wiederfindet. Regieren kann er nur mit wechselnden Mehrheiten. Seine Verbündeten? Mal SPD und Linke, mal andere. Verlässlich ist hier nichts mehr.
Die SPD hat sich mit der Linken zu einer Fraktionsgemeinschaft zusammengeschlossen – aus inhaltlicher Nähe, aber auch aus Notwendigkeit. Gemeinsam bringen sie es auf acht Sitze. Auch das reicht nicht, um Gesetze zu prägen – nur, um sie mit Mühe zu verhindern.
Und die FDP? Sie besitzt gerade einmal ein Mandat, hat sich aber über eine Zählgemeinschaft mit BSW und Bürgerliste politisch Einfluss verschafft – ein Schachzug, der bei liberalen Wählern durchaus für Stirnrunzeln sorgt, zumal diese Verbindung ideologisch schwer nachvollziehbar ist.
Politik ohne Richtung – Verwaltung auf Sicht
Was bleibt, ist ein politischer Flickenteppich. Eine Bürgerschaft, in der wechselnde Koalitionen das Tagesgeschehen prägen, ohne strategisches Ziel, ohne erkennbare Linie. Entscheidungen werden von Sitzung zu Sitzung neu verhandelt. Verantwortlichkeiten verschwimmen. Die Bürgerschaft ist handlungsfähig – aber kaum steuerbar.
Oberbürgermeister Fassbinder muss verwalten, wo nicht regiert wird. Die Stadt steht nicht still, aber sie bewegt sich im Zickzack. Die Hoffnung liegt auf Sachpolitik – doch auch die braucht am Ende Mehrheiten. Und genau daran mangelt es: an klaren Verhältnissen.
Das Labor der Unregierbarkeit
Greifswald ist heute ein Mikrokosmos für das, was in vielen Kommunen droht: die Erosion klarer politischer Lager, das Auseinanderbrechen traditioneller Parteien und das Erstarken taktischer Bündnisse ohne Substanz. Wer sich fragt, wie eine Demokratie ohne stabile Mehrheiten funktioniert – hier ist die Versuchsanordnung.
„Macht ohne Mehrheit“ – das ist kein Zustand, der lange gutgeht. Sondern ein politischer Schwebezustand, der Verantwortung zerreibt und Vertrauen zerstört.
Wenn das Experiment Greifswald scheitert, wird es nicht an mangelnden Stimmen liegen – sondern an mangelnder Klarheit.
