Warum Genf zur Belastungsprobe für die Ukraine – und für all jene wird, die ihr beistehen

VonRainer Hofmann

November 24, 2025

In Genf sitzen Delegationen aus den USA und der Ukraine an langen Tischen, und beide Seiten sprechen von Fortschritten. Doch je mehr Worte fallen, desto deutlicher wird, dass niemand sagen will, was diese Fortschritte eigentlich bedeuten. Der Kapitulationsplan liegt wie ein Schatten über allen Gesprächen. Ein Papier, das der Ukraine große Teile ihres eigenen Landes abverlangt und Moskau Zugeständnisse zuschanzt, die in Kiew wie eine Einladung zu weiteren Angriffen wirken. Die Außenminister lächeln, reden von guten Momenten, aber jeder Satz klingt, als würde er einen anderen verschlucken.

Marco Rubio nennt den Tag „sehr lohnend“, doch er vermeidet konkrete Aussagen. Er sagt, man wolle „so schnell wie möglich“ eine Lösung, betont aber, dass der Donnerstag, den Trump als Frist gesetzt hat, „keine starre Grenze“ sei. Man könne weiterverhandeln, man könne später entscheiden, man könne das Ganze noch eine Ebene höher schieben. Und dann sagt Rubio einen Satz, der hängenbleibt: Man müsse das Ergebnis „natürlich Moskau vorlegen, die Russen haben hier ein Mitspracherecht“. In vielen europäischen Hauptstädten wird das nicht als technischer Hinweis verstanden, sondern als Warnsignal. Die ukrainische Delegation spricht von guten Gesprächen. Andrij Jermak sagt, man bewege sich in Richtung eines „gerechten und dauerhaften Friedens“. Doch diese Worte stehen im Raum, während gleichzeitig bekannt wird, dass eine Gruppe US-Senatoren den ursprünglichen Entwurf als „Wunschliste Moskaus“ beschrieben hat. Eine Darstellung, die das Außenministerium als „falsch“ zurückweist, aber der Schaden ist angerichtet: Niemand weiß mehr genau, wessen Plan hier eigentlich verhandelt wird – der einer Regierung oder der eines Angreifers.

Der Präsident selbst verschärft diese Unsicherheit. Trump beschwert sich öffentlich darüber, die Ukraine zeige „null Dankbarkeit“ für amerikanische Hilfe. Putin erwähnt er nicht, was nicht weiter überraschend ist. Er droht mit Deadlines, sagt dann wieder, dies sei nicht sein „letztes Angebot“. Selenskyj antwortet nüchtern und erinnert daran, dass es Russland war, das den Krieg begonnen hat, und dass die Ukraine „immer ihr Zuhause verteidigen“ werde. Er bedankt sich bei den USA, bei „jedem amerikanischen Herzen“, aber zwischen den Zeilen steht die Angst, im entscheidenden Moment zum Spielball zu werden.

In Europa wächst die Sorge. Friedrich Merz sagt offen, dass einige Teile des Plans tragbar seien, andere aber nicht. Die rote Linie: Die Souveränität der Ukraine dürfe nicht angetastet werden. Paris und London sehen es ähnlich, drücken es nur klarer aus. Frankreichs Verteidigungsministerium nennt die im Entwurf vorgesehenen Begrenzungen der ukrainischen Armee „eine Beschneidung der Selbstverteidigung“. In Warschau spricht Donald Tusk aus, was andere nur denken: „Es wäre gut zu wissen, wer diesen Plan eigentlich geschrieben hat und wo er entstanden ist.“ Wenn ein polnischer Premier solche Sätze wählt, dann ist das kein Randkommentar, sondern ein Alarm aus einem Land, das russische Gewalt nicht aus den Nachrichten kennt, sondern aus der eigenen Geschichte.

Während in Genf um Formulierungen gerungen wird, versucht ein anderer Akteur, eine ältere Spur wieder aufzunehmen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigt ein Gespräch mit Wladimir Putin an. Er will ihn drängen, das Getreideabkommen über das Schwarze Meer erneut aufzugreifen – jenes Abkommen, das ukrainischen Exporten einst einen geschützten Korridor verschaffte, bevor Moskau den Stecker zog. Erdoğan erinnert daran, dass dieser Korridor mehr war als Handel: Er war einer der wenigen Versuche, inmitten des Krieges einen konkreten Zugang zu Entlastung zu schaffen – für Länder im globalen Süden, die auf ukrainisches Getreide angewiesen sind, und für eine Ukraine, die zeigen wollte, dass sie trotz Angriffen handlungsfähig bleibt. Dass die Türkei jetzt wieder ansetzt, zeigt, wie groß die Lücke ist, die ein ehrlicher Vermittlungsversuch lassen kann – und wie dünn die Substanz eines Plans wirkt, der von Gebietsverzicht und Amnestien lebt, aber echten Schutz nur verspricht.

Gleichzeitig beginnt in den USA eine andere Linie dieser Geschichte, die außerhalb von Genf kaum sichtbar ist, aber für Hunderttausende Menschen unmittelbare Folgen hat. Fast 200.000 ukrainische Geflüchtete geraten dort in eine Lage, die sich täglich zuspitzt. Viele kamen über humanitäre Programme, arbeiten, zahlen Steuern, ihre Kinder besuchen amerikanische Schulen – und müssen nun erleben, dass ihr Aufenthalt plötzlich ins Wanken gerät. Arbeitsgenehmigungen laufen aus oder werden nicht verlängert. Anträge bleiben in Ämtern liegen oder kommen mit neuen Auflagen zurück, die kaum erfüllbar sind. Familien berichten, dass sie völlig unverschuldet in einen Schwebezustand geraten, der ihre Zukunft zerstören kann.

In Beratungsstellen häufen sich die Akten. Einige Arbeitgeber wissen nicht mehr, ob sie ihre ukrainischen Mitarbeiter weiter beschäftigen dürfen. Andere mussten bereits kündigen, weil Behörden auf Zeit spielen oder Fristen verstreichen lassen. Anwälte warnen, dass sich hier eine Lage aufbaut, die innerhalb weniger Wochen eskalieren kann – ein administratives Chaos, das nicht Statistiken trifft, sondern Menschen, die sich an die Regeln gehalten haben. Für uns bedeutet das: noch mehr Fälle, die zusätzlich zu ICE, Recherchen und laufenden Verfahren auf unseren Tisch kommen. Es gibt Tage, an denen klar wird, dass der Kalender längst nicht mehr zu dem passt, was real zu bewältigen ist.

Dass diese Menschen und die Verhandlungen in Genf zusammengehören, wird im politischen Betrieb gern ausgeblendet. Doch die Verbindung ist offensichtlich. Während eine Delegation in einem Konferenzraum darüber diskutiert, wie viel ein angegriffenes Land preisgeben soll, sitzen anderswo Familien vor Briefen der Einwanderungsbehörden und fragen sich, ob sie in einem Land bleiben dürfen, dessen Regierung gleichzeitig Druck auf ihre Heimat ausübt. Der Kapitulationsplan mag auf Pressekonferenzen als „Chance“ beschrieben werden. Für die Ukraine – an der Front, am Verhandlungstisch und in den Wartesälen amerikanischer Behörden – sieht er vor allem nach einem Projekt aus, bei dem andere entscheiden, was sie opfern soll.

Genf zeigt in diesen Tagen, wie eng Krieg, Diplomatie und persönliches Schicksal miteinander verbunden sind. Ein Präsident drängt ein angegriffenes Land in eine Richtung, die seine eigene Partei zunehmend spaltet. Senatoren sprechen von einem „Erpressungsversuch“, europäische Regierungen stemmen sich gegen einen Text, der ihre Sicherheit direkt berührt. Ein türkischer Präsident versucht, zumindest ein früheres Abkommen wiederzubeleben, das einmal tatsächlich Millionen Menschen geholfen hat. Und Hunderttausende Geflüchtete erleben, wie unter derselben Regierung, die in Genf von Frieden spricht, ihr eigener Schutz brüchig wird.

Man kann diesen Plan in Reden als großen Wurf anpreisen. Für die Menschen, die in Bucha Gräber ausgehoben haben, für die Soldaten, die östlich von Donezk im Schlamm liegen, für die Geflüchteten in den USA, die längst Teil des Alltags ihrer Nachbarschaften geworden sind, bleibt er etwas anderes: „Ein Papier, das nicht Sicherheit bringt, sondern ein Land ausliefert – und zeigt, wie viel eine Demokratie im Jahr 2025 im Namen eines schnellen Schlussstrichs zu opfern bereit ist“.

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Helga M.
Helga M.
4 Stunden zuvor

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Lea
Lea
1 Stunde zuvor

Zuweilen frage ich mich, ob ich wirklich wissen will, was die Zukunft bringt.

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