Wenn Belém glänzt und Berlin stolpert – ein Satz, der eine Regierung blamiert

VonRainer Hofmann

November 19, 2025

Belém – Friedrich Merz wollte nach seiner Rückkehr aus Belém offenbar nur einen kurzen Eindruck schildern. Was folgte, war eine landesweite Kritik in Brasilien, Vorwürfe von Arroganz, Fremdenfeindlichkeit und ein Präsident Lula, der keine Sekunde zögerte, den deutschen Kanzler öffentlich zu rügen. Ein einziger Satz genügte, um die Stimmung in einem Land zu kippen, das Deutschland eigentlich als Partner braucht. Merz hatte in Berlin gesagt, niemand aus der mitgereisten Journalistengruppe hätte in Belém bleiben wollen, und alle seien froh gewesen, diesen Ort zu verlassen. In Deutschland war es eine beiläufige Bemerkung. In Brasilien wurde sie als Abwertung einer Stadt verstanden, die trotz Hitze, Überlastung und schwieriger Logistik zum Mittelpunkt der COP30 gemacht wurde – bewusst, als politisches Signal, als Eintrittstor zum Amazonas.

Bescheidenheit wäre der bessere Weg gewesen

Dass Merz zur Unzeit über „diesen Ort“ sprach, fiel genau in den Moment, in dem Belém sich der Welt neu präsentiert. Die Aufmerksamkeit lag nicht nur auf der Klimakonferenz, sondern auch auf den sichtbaren Veränderungen in der Stadt. Nirgends ist das deutlicher als im Ver-o-Peso-Markt, dem historischen Herz Beléms, einem Ort, an dem seit über einem Jahrhundert die Waren aus dem Amazonas ankommen, verkauft, getrocknet, zubereitet und gefeilscht werden.

Ver-o-Peso-Markt

Für COP30 wurde der Markt renoviert: Die alten Holzstände, jahrelang aufgequollen von der Feuchtigkeit, wurden gegen robuste Bauelemente ersetzt. Neue Planen schützen vor der Sonne, der Boden wurde erneuert, Leitungen gelegt, Schädlinge und Überschwemmungen sollen der Vergangenheit angehören. Viele Händler feiern diesen Schritt. Es ist sauberer, sicherer, besser besucht. Andere trauern der alten Struktur nach. Zu glatt, zu touristisch, zu wenig Raum, zu wenig Luft – und vor allem zu wenig von dem ursprünglichen Markt, den die Einheimischen seit Generationen kannten.

Ver-o-Peso-Markt

Während Händler wie Roberto Pontes über den glänzenden Zustand des neuen Marktes staunen und die neuen Besucherströme begrüßen, stehen andere wie Ricardo Rodrigues de Sousa skeptisch daneben. „Sie haben aufgeräumt – und die Stammkunden vertrieben“, sagt er. Touristen fotografieren, schauen, ziehen weiter. Das Geschäft sei dadurch eher schwieriger geworden. Eine Realität, die viele in Belém beschäftigt: Wie viel Modernisierung hilft – und ab wann sie das echte Leben verdrängt. In der Açaí-Sektion rufen Verkäufer inzwischen auf Englisch, um Delegationen aus aller Welt anzulocken. Manche setzen sich an die neuen Granittresen, probieren gebratenen Pirarucu und frisches Açaí, wundern sich über Farbe und Geschmack. Andere ziehen zu Magneten, Armbändern und bemalten Samen weiter – die Souvenirstände sind in diesen Tagen voller als die Fischbuden. Und doch bleibt der Markt ein Ort, der die Stadt prägt: laut, intensiv, voller Gegensätze.

Ver-o-Peso-Markt

Nicht alle profitieren von der Modernisierung. Neue Stände sind höher, schwerer zu erreichen, sagen ältere Händlerinnen. Die neuen Dächer verhindern Luftzirkulation. Beschwerden gibt es viele. „Sie haben uns nicht gefragt“, sagt Miraci Alexandre, 60. „Sie haben gebaut, wie sie wollten. Es sieht besser aus, aber für uns ist es nicht praktischer.“ Für viele spiegelt genau das wider, was Lula Merz entgegenhielt: dass man eine Stadt nicht verstehen kann, wenn man sie nur aus der Distanz mustert.

In Pará blieb die politische Reaktion auf Merz nicht aus. Gouverneur Helder Barbalho nannte den Satz „voreingenommen“ und erinnerte daran, dass diejenigen, die den Planeten aufgeheizt haben, sich kaum über das Klima im Amazonas wundern können. Der Bürgermeister von Belém sprach von Arroganz und davon, dass die Menschen seiner Stadt offener seien als die Anspielungen des Kanzlers. Im Netz kursierten Vergleiche mit dem 7:1 von 2014 – diesmal aber mit dem Hinweis, dass die Worte des Kanzlers mehr schmerzten als der damalige sportliche Schlag.

Die deutschen Reaktionen kamen erst, als der Schaden längst sichtbar war. Ein Sprecher des Kanzlers erklärte, Merz bedaure, dass der enge Zeitplan ihm nicht erlaubt habe, die Amazonasregion intensiver zu erleben. Er lobte außerdem die Leistung, COP30 in Belém auszurichten. Es war eine vorsichtige Formulierung, mehr ein Versuch, die Lage abzumildern als eine ehrliche Einordnung – und in ihrem Ton kaum überzeugend. Sie fügt sich ein in das Bild einer Merz-Regierung, die stärker von früheren Erfolgen lebt, als dass sie eigene setzt.

Ver-o-Peso-Markt

Parallel versuchte Umweltminister Carsten Schneider, die Lage zu beruhigen. Er lobte die „wunderbaren Menschen Brasiliens“ und deren Gastfreundschaft. Der Kontrast zu Merz’ Ton war offensichtlich. Auch hier bleibt die Frage offen, ob es Überzeugung oder Schadensbegrenzung war. Klar ist nur: Die Linien innerhalb der Bundesregierung wirkten an diesem Tag alles andere als geschlossen. Die politische Dimension dieses Fehltritts reicht weit über einen unbedachten Satz hinaus. Deutschland ist zentraler Geldgeber des Amazonienfonds. Merz hatte Anfang November zugesagt, den neuen „Tropical Forests Forever“-Fonds zu unterstützen, ein Projekt, mit dem über 70 Länder beim Waldschutz helfen wollen. Brasilien erwartet in diesen Partnerschaften nicht nur Geld – sondern Respekt. Genau an diesem Punkt hat der Kanzler eine unnötige Schwachstelle geschaffen.

Während Merz „froh war, wegzukommen“, zeigt Belém der Welt, warum diese Stadt trotz aller Probleme ihren eigenen Wert hat. Händler, Delegierte, Besucher und Politiker begegnen sich dort täglich, essen, verhandeln, streiten, entdecken. Es ist ein Ort zwischen Tradition und Neubeginn. Und genau dieser Ort hat dem deutschen Kanzler gezeigt, was Außenwirkung bedeutet – und wie schnell ein Satz genügt, um eine Regierung in ein Licht zu stellen, das sie selbst nie beabsichtigt hat.

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Irene Monreal
Irene Monreal
3 Stunden zuvor

Merz ist für „Mitten im Leben“ völlig ungeeignet. Seine abgehobene Arroganz wird meines Erachtens derzeit nur noch von der Primitivität Trumps getoppt.

Lilo
Lilo
1 Stunde zuvor
Antwort auf  Irene Monreal

Ja Irene, da kommt tatsächlich in einem einzigen Satz die ganze Arroganz des Kanzlers zum Tragen.
Dieser eine Satz offenbart, warum Merkel ihn entsorgt hatte und warum das nie und nimmer „mein“ Kanzler sein kann und wird.
Es sind nicht ein paar Fehler, die ich ihm vorwerfe, es ist seine Art, andere Menschen zu degradieren. Sie als weniger wert einzustufen. Und da kann er versuchen zurück zu rudern, Präsident Lula sieht das genau richtig. Nichts wissen über die Region, über die Menschen, aber nicht nur urteilen, sondern verurteilen.
Merz, so ein durch und durch unangenehmer Mensch.

Muras R.
Muras R.
1 Stunde zuvor

Friedrich Merz benimmt sich immer mehr auffällig trumpelig, unfähig über den Tellerrand seiner eigenen Interessen hinauszuschauen

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