Washington – Während Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner nicht wissen, wie sie diesen Monat ihre Lebensmittel bezahlen sollen, zieht Donald Trumps Regierung erneut vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Ziel ist es, die vollen Zahlungen im Bundesprogramm SNAP – der zentralen amerikanischen Lebensmittelhilfe – eingefroren zu halten, solange der längste Regierungsstillstand der US-Geschichte anhält. Es ist ein Schritt, der juristisch verklausuliert erscheint, aber in Wahrheit eine moralische Zäsur markiert: die bewusste Instrumentalisierung von Hunger als politischem Druckmittel.
Trumps Vorgehen ist keine juristische Strategie, sondern eine späte, fast schon schäbige Racheaktion – getrieben von Trotz, nicht von Logik. Denn in dem Haushaltskompromiss, der am 9. November im Grundsatz vereinbart wurde, ist längst festgeschrieben, dass die Gelder für SNAP unmittelbar nach Ende des Shutdowns wieder freigegeben werden. Mit anderen Worten: Selbst wenn der Supreme Court in den kommenden Tagen entscheidet, bleibt die Frage faktisch gegenstandslos. Die Mittel fließen ohnehin, sobald der Kongress die Regierung wieder öffnet.
Seit Wochen streiten sich die Gerichte über die Frage, ob das Programm weiter in voller Höhe ausgezahlt werden muss. SNAP – offiziell das Supplemental Nutrition Assistance Program – versorgt rund 42 – 44 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten, von denen viele bereits seit Anfang November keine Leistungen mehr erhalten haben. Drei Bundesrichter – in Massachusetts, Rhode Island und im District of Columbia – verpflichteten die Regierung, die Auszahlung der Lebensmittelhilfe fortzusetzen. Das Gericht in Rhode Island stellte klar, die Regierung „müsse die Gelder rechtzeitig oder so bald wie möglich für die Novemberzahlungen freigeben“, dass das Landwirtschaftsministerium (USDA) verpflichtet sei, die Zahlungen vollständig weiterzuführen. In Rhode Island ordnete Bundesrichter John J. McConnell am Donnerstag die volle Finanzierung bis Freitag an – woraufhin einzelne Bundesstaaten binnen Stunden ihre EBT-Karten aufluden.
Dann folgte die juristische Pendelbewegung, die über Kühlschränke und Vorratskammern entschied. Freitagabend, 7. November, erließ Supreme-Court-Richterin Ketanji Brown Jackson eine administrative Eilanordnung, die McConnells Entscheidung vorläufig aussetzte, um dem Berufungsgericht Zeit für die Prüfung zu geben. Einige Staaten, die bereits ausbezahlt hatten, ließen die Beträge stehen – andere stoppten. Sonntagabend, 9. November, meldete sich das Berufungsgericht des 1. Bezirks in Boston zurück und ließen die Anordnung zur Vollauszahlung durch die Bundesrichter Julie Rikelman, Gustavo A. Gelpí, David J. Barron, bestehen. Gleichzeitig blieb die vom Supreme Court gesetzte 48-Stunden-Atempause wirksam: Der Bund musste in diesem Fenster nicht auszahlen. Montag, 10. November, legte die Regierung nach und rief den Supreme Court erneut an, um die Vollauszahlung weiter eingefroren zu halten, bis das Hauptverfahren geklärt ist.
Generalstaatsanwalt D. John Sauer, Trumps oberster Vertreter vor Gericht, bestätigte am Montag, dass die Regierung die Entscheidungen der unteren Instanzen anfechte. In einem Schreiben an die Richter verwies er zwar auf ein mögliches Ende des Shutdowns durch einen Kongresskompromiss, der SNAP finanziell wieder auffüllen würde. Der Hauptpunkt bleibt jedoch: Die Anordnung, volle Leistungen auszuzahlen, verletze die Budgethoheit von Exekutive und Legislative. In der Praxis bedeutet das: Die Regierung beansprucht das Recht, Millionen Familien das Essen zu verweigern, solange die Politik sich nicht geeinigt hat.

Die juristische Lage ist unübersichtlich, die menschliche klar. In zahlreichen Bundesstaaten, die das Programm verwalten, herrscht Chaos. Einige Gouverneure wiesen ihre Behörden an, die Karten der Bedürftigen dennoch in voller Höhe zu laden. Andere wagten es nicht, aus Angst, am Ende auf Milliardenkosten sitzenzubleiben. Das USDA wiederum schickte am Wochenende Anweisungen heraus, bereits ausgezahlte Leistungen „rückgängig“ zu machen – ein bürokratisches Ungeheuer, das selbst robuste Sozialverwaltungen überfordert. In Boston pausierte Bundesrichterin Indira Talwani am Montag genau diesen Versuch und ordnete für denselben Tag eine Anhörung an.
Der Oberste Gerichtshof hat der Regierung bislang gestattet, volle Zahlungen vorläufig zu blockieren. Eine weiterführende Entscheidung wird für Dienstagabend, 11. November, wir werden von dort berichten, erwartet. Selbst wenn der Supreme Court die Sperre verlängert, könnte der Kongress noch in dieser Woche ein Haushaltsgesetz verabschieden, das SNAP wieder finanziert – inklusive Rückerstattungen an Bundesstaaten, die mit eigenen Mitteln in Vorleistung gegangen sind.
Die Warnungen aus den Staaten klingen drastisch. Verwaltungsbeamte sprechen von drohenden „katastrophalen operativen Störungen“, sollte Washington keine Rückerstattung leisten. In Wisconsin, einem der ersten Bundesstaaten, die nach McConnells Order voll auszahlten, ist das Guthaben im staatlichen SNAP-Konto nahezu aufgebraucht. Ohne Bundeszuschüsse, so eine eidesstattliche Erklärung, könne der Staat binnen Tagen keine Händler mehr entschädigen, die Lebensmittel an Bedürftige verkauft haben.

Die sozialen Folgen spitzen sich zu. Millionen Familien haben ihre Leistungen noch nicht erhalten, weil ihre Bundesstaaten auf die Signale aus Washington warten. Millionen andere konnten dank des kurzen Fensters nach McConnells Entscheidung Lebensmittel kaufen – bevor die Eilanordnung aus Washington den Geldhahn wieder zudrehte. Für viele, vor allem Kinder, Senioren und Alleinerziehende, sind diese Verzögerungen existenzbedrohend. Auch wir versuchen zu helfen – so, wie es in unseren Kräften steht. Am Wochenende waren einige von uns in Dallas unterwegs, mit Kisten voller Lebensmittel und Tierfutter, die wir an jene weitergaben, die im Moment kaum noch wissen, wohin. Was wir hatten, gaben wir ab, halfen stundenlang bei der Verteilung mit. Weil das Elend groß ist. Und weil Wegsehen keine Option mehr ist.

„Jede Stunde, die vergeht, vertieft das Leid“, sagt Diane Yentel, Präsidentin des National Council of Nonprofits, einer der Klägerorganisationen. „Wenn grundlegende Menschlichkeit die Regierung nicht dazu bringt, die Ernährung von Millionen zu sichern, dann sollten wenigstens die wiederholten Urteile der Gerichte, die ihr Handeln für unrechtmäßig erklären, dazu führen.“ Doch das Weiße Haus schweigt. Keine Pressekonferenz, kein Statement, keine Spur von Mitgefühl. Gleichzeitig verlangt Washington von den Staaten, bereits ausgezahlte Beträge „rückgängig“ ,bis zum entgültigen Haushaltsbeschluss, zu machen – ein Vorhaben, das Richterin Talwani vorerst gestoppt hat und das in der Praxis kaum machbar wäre, ohne die Infrastruktur der Lebensmittelläden, EBT-Dienstleister und Sozialstellen ins Wanken zu bringen.
In Connecticut reagierte Gouverneur Ned Lamont mit Empörung und Trotz. „Nein, Connecticut wird keine SNAP-Leistungen zurückfordern, die bereits an 360.000 Menschen ausgezahlt wurden, die auf dieses Geld angewiesen sind, um zu essen“, erklärte er. „Diese Menschen dürfen nicht zum Spielball politischer Machtkämpfe werden. Wir stehen zu ihnen.“ Andere demokratisch regierte Staaten kündigten ähnlichen Widerstand an – und verlangten zugleich Rechtssicherheit, damit Händler nicht zwischen Kasse und Gerichtssaal aufgerieben werden. Dass eine Bundesregierung ihre eigenen Gerichte bekämpft, um Bedürftigen den Zugang zu Lebensmitteln zu verweigern, hat in der Geschichte der Vereinigten Staaten kaum ein Vorbild. Der Streit um SNAP ist längst mehr als eine juristische Auseinandersetzung – er ist ein moralischer Offenbarungseid.
Wenn der Supreme Court in den kommenden Stunden entscheidet, ob die Leistungen weiter eingefroren bleiben, dann geht es nicht mehr nur um Haushaltsrecht. Es geht darum, ob eine Regierung, die sich selbst als Retter inszeniert, bereit ist, ihre eigenen Bürger hungern zu lassen, um Stärke zu demonstrieren. Und es geht um die Frage, ob Amerikas Institutionen stark genug sind, diesem Zynismus etwas entgegenzusetzen.
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Warum nur, muss ich beim Anhören des Artikels an den Holodomor denken 😔
…der vergleich ist gar nicht so abwegig, denn was trump nun treibt, geht über alles hinaus…