Die Morgendämmerung der Ahnungslosigkeit – Wie Europa sich mit Sanktionen selbst lächerlich macht

VonRainer Hofmann

Oktober 21, 2025

Es ist ein Beschluss, der nach Entschlossenheit klingen soll, aber in Wahrheit jegliche Entfernung zur Realität aufzeigt. Am 20. Oktober 2025 einigten sich die Energieminister der Europäischen Union darauf, russisches Öl und Gas bis Januar 2028 schrittweise zu beenden. Drei Jahre Zeit, um sich aus einer Abhängigkeit zu lösen, die längst politisch untragbar, ökonomisch riskant und moralisch vergiftet ist. Und doch: nichts an diesem Beschluss wirkt wie eine Zeitenwende – eher wie eine Verwaltung des Unvermeidlichen. Das sollte man Wolodymyr Selenskyj am besten bei einem guten Glas Horilka erklären – vielleicht versteht er es dann besser, oder es ist ihm danach wenigstens egal.

Europa erklärt den Bruch, aber nicht jetzt. Es kündigt die Entgiftung an, während es weiter konsumiert. Es schreibt den Abschied vom russischen Öl in Verordnungen, aber nicht in die Tanklager. Das ist keine Sanktion, das ist eine Sedierung – eine Beruhigungstablette für ein politisches Gewissen, das sich selbst nicht mehr traut.

Putin dürfte gelacht haben, als die Meldung kam. Denn wer die Macht der Zeit besitzt, der fürchtet keine Fristen. Russland hat längst neue Absatzmärkte geschaffen – Indien, China, die Türkei, Ägypten –, hat Schattenflotten in Bewegung gesetzt, Tanker umgeflaggt, Versicherungen in Hongkong und Dubai organisiert. Europäisches Geld fließt weiter, nur über neue Kanäle. Über Malta, Zypern, Singapur. Dieselbe Substanz, neuer Name. Und Brüssel klopft sich auf die Schulter, weil es Sanktionen beschlossen hat, die erst greifen, wenn längst niemand mehr hinsieht. Man muss sich fragen, ob Europa überhaupt noch versteht, was es da tut. Die Architekten dieser Entscheidung sprechen von „Energiesouveränität“, als ginge es um eine philosophische Tugend, nicht um eine strategische Notwendigkeit. In Wahrheit hat die EU damit eine Einladung zur Verschleppung ausgesprochen – und den Staaten, die ohnehin zögern, ein bequemes Schlupfloch gebaut. Ungarn, Slowakei, Bulgarien – sie alle haben Übergangsregelungen, die so lang sind, dass sie wie politische Begnadigungen wirken.

Währenddessen wird das, was man einst als europäische Energiepolitik kannte, zu einem System der Widersprüche. Man will Autokraten bestrafen, bezieht aber weiter Gas über LNG-Terminals, in denen russische Moleküle nur so lange unkenntlich gemacht werden, bis sie wieder politisch korrekt erscheinen. Man will moralisch handeln, zahlt aber Rekordpreise an Zwischenhändler, die ihre Gewinne in denselben Häfen versteuern, über die russische Tanker unauffällig ihre Routen ändern.

Die Kommission nennt es „geordnete Entkopplung“. In Wahrheit ist es ein Wort für das, was Europa in fast allen Krisen übt: Überforderung und Arroganz. Es ist leichter, Sanktionen zu beschließen, die in drei Jahren greifen, als Konsequenzen zu ziehen, die morgen wehtun.

Das Schlimmste daran ist nicht die Heuchelei, sondern die Selbsttäuschung. Europa scheint vergessen zu haben, was Sanktionen eigentlich sind: ein Instrument, um Verhalten zu verändern. Doch Verhalten verändert man nicht mit Ankündigungen, sondern mit Druck. Wenn man einem Regime, das Krieg führt, heute erklärt, man werde in drei Jahren kein Öl mehr abnehmen, dann ist das kein Druck – das ist Planungssicherheit. Diese Entscheidung kommt zu einer Zeit, in der die Welt die Sprache der Macht neu lernt. Washington, Peking, Moskau sprechen in Härte, Tempo und Kalkül. Europa dagegen spricht in Paragraphen, Fußnoten und Übergangsfristen. Es hat sich in seine eigene Moralgrammatik verirrt. Selbstgerecht, aber machtlos.

Wer in diesen Tagen in Brüssel zuhört, hört Worte wie „Klimaneutralität“, „Energiepartnerschaften“, „technologische Unabhängigkeit“. Doch hinter der Rhetorik verbirgt sich ein Kontinent, der auf Energie angewiesen bleibt, die er moralisch ablehnt, und auf Institutionen, denen er politisch nicht mehr traut. Man verhandelt über Gas, während die Pipelines längst leer sind – über Werte, während man Kompromisse verkauft. Vielleicht ist das die eigentliche Tragödie dieser Morgendämmerung: Europa glaubt, es sei wach, während es längst schlafwandelt. Schlafwandelt, wie auch zumeist die Innenpolitik der EU-Länder, durch eigenen Illusionen von Stabilität, Moral und Einfluss. Schlafwandelt durch diplomatische Gipfel, die mehr Kantinnentreff als Politik sind.

Man spricht vom „langen Schatten Russlands“, aber der Schatten fällt längst aus Brüssel selbst – aus einer Hauptstadt, die nicht mehr entscheidet, sondern verwaltet. Sanktionen, die erst 2028 greifen, sind kein Machtinstrument, sie sind eine Ausrede. Es ist ein symbolisches Ritual: Europa erklärt seine Unabhängigkeit, während es sie Schritt für Schritt verliert. Der Kreml muss nichts tun, nur abwarten. Denn wer glaubt, man könne moralisch verhandeln, während andere geopolitisch rechnen, hat schon verloren.

Die Morgendämmerung Europas ist nicht das Ende der Nacht, sondern ihr Spiegel – und der spiegelt mehr als nur ihre Politik.

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Lea Ofrafiki
Lea Ofrafiki
10 Stunden zuvor

Wie heißt es noch: Geld stinkt nicht – auch wenn diese Verzögerungen und Verschleierungen zum Himmel stinken.

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