Ein Virus, der die Welt befällt – Sanae Takaichi, Trump und die stille Internationale der Ultrarechten

VonRainer Hofmann

Oktober 20, 2025

Japans politische Szene steht vor einem Wendepunkt – und zugleich vor einem Spiegel, in dem sich vertraute Konturen aus Washington, Rom und Budapest wiederfinden. Eine Regierungspartei verliert ihre Mehrheit, eine langjährige Koalition zerbricht, der neue Parteivorstand sucht eilig einen Partner, der verlässlich Stimmen liefert. So erklärt sich auf den ersten Blick, warum Sanae Takaichi, 64, in Tokio kurz davorsteht, am Dienstag die Nachfolge von Shigeru Ishiba anzutreten. Doch unter der Oberfläche dieser parlamentarischen Arithmetik arbeitet eine andere Logik, die in Washington, Rom, Budapest und Paris vertraut wirkt. Man könnte sie das Syndrom der entschlossenen Minderheit nennen: ein Politikstil, der Konflikt als Tugend ausgibt, Revision als Heilmittel, Identität als Währung. Ein Virus, das Grenzen nicht kennt und das Immunsystem liberaler Demokratien dort befällt, wo es am schwächsten ist – bei Erschöpfung, Preisdruck, Misstrauen, einem Überdruss an Komplexität.

Takaichis Aufstieg ist kein isoliertes Ereignis, sondern ein weiterer Knoten in einem Netz, das von Moskau bis Miami, von Osaka bis Oradea reicht. Die Stränge sind nicht immer institutionell, oft nur symbolisch, manchmal lediglich stilistisch. Aber sie sind stark genug, um politische Schwerkraft zu verändern. In Japan trägt dieses Geflecht bekannte Merkmale: der Bruch mit Komeito nach 26 Jahren, offiziell begründet mit Korruptionsermüdung und inoffiziell angetrieben von einer ideologischen Verhärtung; der Griff nach Ishin no Kai, der rechtsnationalen Innovationspartei aus Osaka, als Brücke zur Macht; die Ankündigung, Sicherheitspolitik mit einer entschlosseneren Militärdoktrin zu unterlegen und den ökonomischen Frust mit kurzfristigen Subventionen zu kühlen. Es ist das Handbuch eines Projekts, das seine Legitimation aus Krise zieht und seine Energie aus der permanenten Zuspitzung.

Sanae Takaichi spielte früher Schlagzeug in einer Heavy-Metal-Band und bezeichnet sich selbst als Fan von Black Sabbath.

Die Frau, die in einer Männerpartei zur Galionsfigur geworden ist, verdankt ihre Karriere nicht einer feministischen Öffnung, sondern der konsequenten Zuspitzung auf traditionelle Ordnung. Die männliche Thronfolge als unantastbares Prinzip, die Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Ehe als Bekenntnis, der Widerstand gegen getrennte Nachnamen als Kult der Einheit: Das alles sind nicht bloß Detailpositionen in Randdebatten, sondern Bausteine eines politischen Entwurfs, der Geschlechterrollen, Familie, Nation und Geschichte in eine klare, hierarchische Linie zwingt. Es ist kein Zufall, dass Takaichi Revisionismus nicht als Provokation begreift, sondern als „Wiederherstellung“. Besuche am Yasukuni-Schrein oder symbolische Gaben dorthin, das positive Sprechen über konservative Lobbyzirkel, die Verfassungsrevision fordern, und die demonstrative Nähe zu Shinzo Abes Sicherheitsagenda ergeben zusammen ein Koordinatensystem, in dem Widerspruch als Schwäche gilt und Zweifel als Dekadenz.

Dass diese Agenda in einer wirtschaftlichen Drucklage an Boden gewinnt, ist kein japanischer Sonderfall. Es ist die Grammatik der Gegenwart. Steigende Preise und stagnierende Reallöhne, eine alternde Gesellschaft, eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung, eine diffuse Angst vor Kontrollverlust – all das ist der beste Nährboden für eine Politik, die nicht Probleme löst, sondern Gegner definiert: Bürokraten, Feministinnen, kosmopolitische Eliten, Migrantinnen und Migranten. Takaichis Ankündigungen zur „Ordnung“ in der Einwanderung, zum Schutz „traditioneller Werte“, zur schnelleren Entscheidungsfähigkeit des Staates lesen sich in diesem Licht wie das japanische Kapitel einer globalen Erzählung. In den Vereinigten Staaten ist diese Erzählung seit Jahren zum Regierungsstil geworden, in Italien zum Werkzeug einer Normalisierung, in Ungarn zur Routine der Machterhaltung. In Japan bekommt sie nun – vielleicht – ein neues Regierungslogo.

Die Verbindung zu Donald Trump ist dabei mehr als eine diplomatische Choreografie. Sie ist ideologische Resonanz. Trump schätzt in Tokio, was er daheim predigt: Souveränität als Primat, Militär als Politik durch andere Mittel, Handel als Waffe. Takaichi wiederum bewundert im Weißen Haus, was sie selbst zur Methode erhoben hat: Stärke als Haltung, Härte als Sprache, Vereinfachung als Strategie. Wenn Trump in den nächsten Tagen fordert, Japan müsse die Verteidigungsausgaben drastisch anheben, wenn er auf neue Waffenkäufe drängt, wenn er Investitionszusagen als Loyalitätstest behandelt, dann trifft er bei Takaichi auf ein Gegenüber, das aus Überzeugung nickt – und aus Kalkül. Der Gestus des entschlossenen Schulterschlusses mit Washington hilft ihr, innenpolitische Widerstände zu marginalisieren. Der Schulterschluss selbst verschiebt die Region, weil er den Konflikt als Normalzustand setzt.

Mit diesem Abkommen zwischen der LDP und Ishin wird Sanae Takaichi morgen fast sicher als erste Frau in der Geschichte Japans Premierministerin werden. Es wird eine Minderheitsregierung sein – die schwächste seit Jahrzehnten –, mit Ishin außerhalb der Regierung und Komeito auf dem Weg in die Opposition

Man täte jedoch gut daran, den japanischen Kontext ernst zu nehmen. Die Koalition aus LDP und Ishin ist fragil, arithmetisch bis zur Grenze ausgereizt, angewiesen auf wechselnde Mehrheiten. Komeito, buddhistisch geprägt und jahrelang Garant einer zentristischen Balance, ist nicht nur Partner, sondern auch Seismograf einer Gesellschaft, die in vielen Fragen konservativ denkt, aber autoritäre Lösungen für riskant hält. Der Preis für die Abkehr von Komeito könnte höher sein, als es die ersten Tage der Regierungsbildung vermuten lassen: Mehrheiten im Ober- und Unterhaus müssen jedes Mal neu organisiert werden, jeder Gesetzesentwurf wird zum Testfall, jede Krise zur Gelegenheit für Oppositionsbündnisse. Genau hier zeigt sich, ob der Virus der Verhärtung tatsächlich das ganze System befällt oder ob die Venen der parlamentarischen Demokratie noch belastbar sind.

Die Genderdimension ist dabei kein Nebenschauplatz, sondern ein Gradmesser. Es ist eine bittere Ironie, dass ausgerechnet die erste Frau im Amt der Premierministerin eine Agenda verkörpert, die weibliche Autonomie normativ begrenzt. Dass prominente Feministinnen wie Chizuko Ueno den historischen Moment deshalb nicht feiern, sondern beklagen, ist ein Hinweis auf den Kern der ultrarechten Strategie: Repräsentation ohne Emanzipation, Symbolik ohne Strukturwandel. Wer die Glasdecke mit der Faust durchstößt, kann darunter immer noch das alte Haus belassen. Genau so wird Diversität zur Kulisse, nicht zur Praxis.

Außenpolitisch ist die Lage nicht weniger paradox. Takaichi dürfte das Verhältnis zu China und Südkorea auf einem schmalen Grat halten wollen: stabil genug für Handel und Diplomatie, konfrontativ genug für die eigene Basis. Revisionistische Signale sind in Tokio Innenpolitik, in Peking und Seoul jedoch Chronik unverarbeiteter Gewalt. Jeder symbolische Schritt zum Yasukuni-Schrein wird dort als Weigerung gelesen, die Vergangenheit als Mahnung zu begreifen. In dieser Konstellation gewinnt die Rhetorik der Abschreckung Oberwasser: Die Verdopplung des Verteidigungsbudgets bis 2027, die Debatte über Präventivschlagkapazitäten, die technisch klingenden Papiere zu „Gegenangriffsoptionen“ – all das ist nicht nur Strategie, sondern Sprache. Und Sprache erzeugt Realität, lange bevor Raketen sie bestätigen.

Die Ökonomie ist in dieser Erzählung der Joker, der alles sticht – und doch nichts heilt. Preisbremsen, Zuschüsse, steuerliche Entlastungen, mehr Lohnimpulse: Das Arsenal ist vertraut. Es kauft Zeit, nicht Zustimmung. Und es verdeckt nicht, dass Japan vor einer demografischen Klippe steht, die mit Grenzbasteleien und Identitätspolitik nicht aufzuhalten ist. Wer Arbeitskräftemangel mit kulturellem Protektionismus bekämpft, erzeugt ein Paradox, das irgendwann politisch platzt: Der Wohlstand von gestern wird zur Norm, die mit den Händen von morgen gesichert werden soll, ohne die Menschen von morgen ins Haus zu lassen. Das Virus der Ultrarechten nährt sich genau von dieser Spannung, indem es die Kosten des Übergangs denen aufbürdet, die am wenigsten Lobby besitzen, und die Verantwortung in Moral übersetzt.

Es wäre bequem, Takaichi als japanische Meloni zu etikettieren oder sie neben Le Pen und Orbán in eine Galerie der üblichen Verdächtigen zu hängen. Doch solche Spiegelbilder blenden aus, was den Augenblick gefährlich macht: Nicht die Personalien sind das Problem, sondern die Gewöhnung an ihre Prämissen. Wenn der Ausnahmezustand der Debatte – über Migration, Sicherheit, Geschichte, Geschlecht – zum Alltag wird, wenn die politischen Rituale der Zuspitzung die Arbeit an Kompromissen ersetzen, wenn die schnelle Befriedung der eigenen Basis wichtiger wird als die langsame Verständigung mit den Anderen, dann verengt sich der Raum, in dem Demokratie atmen kann. Das ist die stille Internationale der Ultrarechten: keine formale Allianz, aber eine geteilte Grammatik von Macht.

Genau deshalb ist die anstehende Abstimmung im Nationalparlament mehr als ein Regierungswechsel. Sie ist ein Stresstest dafür, ob das politische Immunsystem Japans die Koexistenz von Konflikt und Institution aushält. Die Minderheitskoalition ist in dieser Hinsicht Segen und Risiko zugleich: Sie zwingt zu Aushandlung, erschwert aber Verbindlichkeit; sie verhindert Durchregieren, begünstigt aber auch die Versuchung, Politik über Symbolakte zu definieren. Und sie wird im Zusammenspiel mit Washington zeigen, wie viel strategische Autonomie Tokio in einer Welt behaupten kann, in der die Vereinigten Staaten unter Trump Sicherheit zur Handelsware und Bündnistreue zur Preisfrage machen.

Vielleicht ist das Tröstlichste am Bild des Virus, dass Gesellschaften Immunität erwerben können. Nicht durch Ignorieren, sondern durch Konfrontation mit Dosisverstand. In Japan bedeutet das: die historischen Debatten offen führen, ohne sie als Loyalitätstest zu missbrauchen; die ökonomischen Dilemmata ehrlich benennen, statt sie als Erzählung von Reinheit zu tarnen; die politische Konkurrenz stärken, nicht nur die eigene Identität. Wer Sanae Takaichi nur als skurrile Ultrakonservative abtut, verkennt ihre Professionalität. Wer sie zur Heilsbringerin einer neuen Ernsthaftigkeit stilisiert, verwechselt Entschlossenheit mit Einsicht. Am Ende entscheidet nicht die Geste am Schrein, sondern die Haltung zum Zweifel. In ihrer Fähigkeit zum Zweifel entscheidet sich, ob aus Japans Zäsur eine nationale Episode wird – oder ein weiteres Kapitel in der Chronik eines Virus, der die Welt befällt.

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Laura Kirchner
Laura Kirchner
1 Stunde zuvor

Meine Güte, das hatte ich noch gar nicht auf dem Schirm, welche Politik sie verfolgt..sind denn jetzt alle vollkommen übergeschnappt?
Aber danke für die Aufklärung und Information, das müssen wir im Auge behalten…

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