Der U-Boot-Krieg in der Karibik – Trumps neue Front und der Fall Carranza

VonRainer Hofmann

Oktober 20, 2025

Ein toter Fischer, ein Präsident tobt, und ein Kontinent sieht zu, wie die alte Ordnung des Westens bröckelt. In der Karibik, wo Amerika seit Jahrzehnten seine Macht projiziert, hat ein einzelner Angriff genügt, um das Verhältnis zwischen Washington und Bogotá auf den Gefrierpunkt zu treiben. Gustavo Petro, der kolumbianische Präsident, beschuldigt die Vereinigten Staaten, in kolumbianischen Gewässern einen Zivilisten getötet zu haben. Der Mann, Alejandro Carranza, sei ein Fischer gewesen, dessen Boot nach einem Motorschaden trieb, als ein US-Militärflugzeug eine Rakete abfeuerte. Washington nennt das Ziel ein „narkotisches Schiff“. Beweise? Keine, außer nachträglich deklassifizierten Videofragmenten. Petro nennt es Mord. Donald Trump nennt ihn einen „illegalen Drogenhändler“ – und stoppt sämtliche Hilfszahlungen an Kolumbien. Unsere Recherchen ergaben, dass der 52 Jahre alte Alejandro Carranza aus der nordkolumbianischen Küstenregion Atlántico stammte und von der Fischerei aktuell lebte, auch wenn seine Biografie komplexer war, als sie Präsident Gustavo Petro in seinen ersten Stellungnahmen zeichnete.

Nach unseren Recherchen war Carranza mehrfach in gerichtlichen Verfahren erfasst, unter anderem wegen „Delitos de peligro común“, also gemeingefährlicher Handlungen, die theoretisch von illegalem Kraftstofftransport bis zu Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften reichen können. Ein rechtskräftiges Urteil lag jedoch nicht vor. Freunde beschrieben ihn als Gelegenheitsfischer, der oft für andere Bootseigner arbeitete. Am 15. September 2025 wurde sein Boot in der Karibik von einer US-Rakete getroffen – laut Washington handelte es sich um ein Drogenfahrzeug, laut Bogotá um ein manövrierunfähiges Fischerboot mit Notsignal. Beweise legten die Vereinigten Staaten bislang nicht vor. Juristisch bewegt sich der Angriff in einer Verbotszone: Weder gab es eine UN-Resolution noch ein ausdrückliches Mandat des US-Kongresses, das solche militärischen Operationen gegen mutmaßliche Schmuggler in fremden Hoheitsgewässern legitimieren würde. Nach Völkerrecht wäre ein solcher Angriff ohne unmittelbare Bedrohung oder Zustimmung des betroffenen Staates unzulässig. Der Fall Carranza steht damit exemplarisch für die Entgrenzung militärischer Gewalt im Namen der Drogenbekämpfung – und für das Schweigen jener Institutionen, die sie kontrollieren sollten.

Ein Eintrag im kolumbianischen Justizregister TYBA bestätigt, dass Alejandro Andrés Carranza Medina in der Stadt Santa Marta in mehreren Verfahren geführt wurde, darunter eines wegen „gemeingefährlicher Delikte“, die der Allgemeinheit Schaden zufügen können. Zwei weitere Akten betreffen Zivil- und Vollstreckungssachen. Aus den Unterlagen geht kein rechtskräftiges Urteil hervor. In Kolumbien können solche Verfahren über Jahre offen bleiben und auch geringfügige Verstöße erfassen, etwa Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften oder den Transport nicht genehmigter Materialien – Kategorien, die häufig Menschen treffen, die im Küstenfischfang oder Kleinhandel tätig sind.

Was wie eine groteske Eskalation persönlicher Eitelkeiten wirkt, ist in Wahrheit ein geopolitischer Epochenbruch. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten richtet sich amerikanische Militärgewalt wieder sichtbar gegen Verbündete. Die von Trump befohlene Operation in der Karibik – offiziell eine „Antidrogen-Offensive“, tatsächlich eine verdeckte Kriegsführung gegen Venezuela – hat bereits mehr als 30 Menschen getötet. Die Boote, die getroffen werden, sind klein, unregistriert, in den meisten Fällen ohne eindeutige Herkunft. Ihre Zerstörung wird in 20-Sekunden-Clips auf Regierungsplattformen hochgeladen, begleitet von Worten wie „Fentanyl“ und „Narco-Terroristen“. Doch keiner dieser Fälle wurde bislang gerichtlich überprüft. Juristen sprechen von extralegalen Tötungen. Die Vereinten Nationen nennen sie „außergerichtliche Hinrichtungen“.

Petro hat das, was viele Regierungen nur denken, öffentlich ausgesprochen. Er wirft Washington vor, die Souveränität seines Landes verletzt zu haben, und fordert die Generalstaatsanwaltschaft auf, die USA vor internationalen und amerikanischen Gerichten zu verklagen. „Das ist das Land Bolívars“, schrieb er. „Und sie töten seine Kinder mit Bomben“, eine gezielte historische Setzung. In Lateinamerika steht Bolívar für Selbstbestimmung und den Anspruch, dass kein fremdes Land über die Geschicke des Kontinents richtet. Mit dieser Formulierung verknüpfte Petro den US-Angriff mit einer langen Reihe von Eingriffen, die Lateinamerika seit dem 19. Jahrhundert geprägt haben – von militärischen Interventionen über verdeckte Operationen bis zu wirtschaftlicher Erpressung. Er sprach als Präsident eines Landes, das einst Washingtons treuester Verbündeter war und nun erleben muss, wie seine Bürger durch amerikanische Raketen sterben, ohne Beweise, ohne Rechtsgrundlage, ohne Mandat des Kongresses. Der Tod des Fischers wurde in Petros Worten zu einem Symbol – für die Rückkehr kolonialer Muster unter neuem Namen und für die Würde eines Staates, der sich weigert, den Kopf zu senken.

Sein Außenministerium sprach von einer „direkten Bedrohung der nationalen Souveränität“ und warnte vor einer illegalen Intervention. Trumps Reaktion folgte in Sekunden: Der Republikaner bezeichnete Petro als „wahnsinnig“, „populistisch“ und „inkompetent“, kündigte an, sämtliche Hilfsgelder zu streichen, und versprach neue Zölle auf kolumbianische Exporte. „Kolumbien ist eine Drogenfabrik“, erklärte er vor Journalisten an Bord der Air Force One. „Ihr Präsident ist ein Verrückter, und wir werden ihn bald schließen – nicht freundlich.“

Bis vor kurzem galt Kolumbien als einer der engsten Partner der USA. Seit den Tagen des „Plan Colombia“ – jener milliardenschweren Anti-Drogen-Initiative der frühen 2000er-Jahre – flossen jedes Jahr hunderte Millionen Dollar aus Washington. Doch unter Trump ist daraus ein System von Strafe und Belohnung geworden. Als Petro im Januar US-Flüge mit abgeschobenen Migranten blockierte, drohte Trump bereits mit „Zöllen in schwindelerregender Höhe“. Im September entzog das Außenministerium Petro das US-Visum, nachdem dieser bei einem pro-palästinensischen Auftritt in New York amerikanische Soldaten aufgerufen hatte, „rechtswidrigen Befehlen“ Trumps zu widersprechen. Der Bruch war absehbar, aber das Tempo überrascht selbst alte Beobachter lateinamerikanischer Politik.

Am 17. Oktober führte das Verteidigungsministerium auf Anweisung von Präsident Trump einen tödlichen kinetischen Schlag gegen ein Schiff durch, das mit der Ejército de Liberación Nacional (ELN), einer als Terrororganisation eingestuften Gruppe, in Verbindung stand und sich im Einsatzgebiet des US-Südkommandos (USSOUTHCOM) befand. Nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zufolge war das Schiff in den Schmuggel illegaler Betäubungsmittel verwickelt, bewegte sich auf einer bekannten Drogenroute und transportierte erhebliche Mengen an Drogen. An Bord befanden sich drei männliche Narco-Terroristen, die bei dem Angriff getötet wurden. Der Einsatz erfolgte in internationalen Gewässern, und keine US-Kräfte wurden dabei verletzt.

Diese Kartelle sind das Al-Qaida der westlichen Hemisphäre – sie nutzen Gewalt, Mord und Terror, um ihren Willen durchzusetzen, bedrohen unsere nationale Sicherheit und vergiften unser Volk. Das US-Militär wird diese Organisationen wie die Terroristen behandeln, die sie sind – sie werden gejagt und getötet, genau wie Al-Qaida.

Das Pentagon rechtfertigt die Angriffe als Teil eines „bewaffneten Konflikts gegen Kartelle“. Kriegsminister Pete Hegseth erklärte am Wochenende, ein weiteres Boot, diesmal angeblich im Dienst der kolumbianischen Guerilla ELN, sei am Freitag zerstört worden. Wieder ohne Beweise, wieder mit dramatischem Video, wieder Mord. Trump selbst postete am Sonntag ein Clip auf Truth Social: ein U-Boot in der Karibik, Sekunden später eine Explosion. „Mit Fentanyl beladen“, schrieb er dazu. Dass Washington von „Fentanyl-Ladungen“ spricht, wirkt wie ein Beweis, der sich selbst widerlegt. Kolumbien produziert kein Fentanyl, verfügt über keine entsprechenden Labore und spielt im globalen Handel synthetischer Opioide keine Rolle. Das Land exportiert Kokain, nicht Chemie. Die Behauptung verrät weniger über die Boote als über die Politik dahinter – eine Rhetorik, die den inneramerikanischen Krieg gegen Drogen nach außen verlegt, um ihn dort zu rechtfertigen, wo niemand nachfragt. Zwei Männer überlebten – ein Kolumbianer, ein Ecuadorianer. Beide wurden zunächst auf einem US-Kriegsschiff behandelt, dann an ihre Heimatländer überstellt. Der Kolumbianer, Jeison Obando Pérez, liegt mit Schädeltrauma in einem Krankenhaus in Cali und wird, sobald er sprechen kann, angeklagt. Das sei „Teil der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten“, erklärte Innenminister Armando Benedetti.

Dass Kolumbien die Überlebenden der US-Angriffe nun selbst anklagt, offenbart das politische Dilemma, in dem sich Bogotá befindet. Petro kann den Angriff nicht billigen, ohne den eigenen Vorwurf der Souveränitätsverletzung zu entkräften – und er kann ihn nicht ungesühnt lassen, ohne sich in Washington dem Verdacht auszusetzen, Komplize der Kartelle zu sein. Die Regierung versucht beides zugleich: Sie weist jede Kooperation mit dem Pentagon zurück und verfolgt dennoch jene, die von amerikanischen Raketen getroffen wurden. Damit will sie nach innen Stärke demonstrieren und nach außen Schadensbegrenzung betreiben. Es ist ein Balanceakt, der juristisch fragwürdig und moralisch kaum haltbar ist – denn wer eine illegale Tötung anprangert, kann nicht zugleich deren Opfer vor Gericht stellen, wo die Beweise des Drogenschmuggels fehlen, besonders von Substanzen, die in Kolumbien nicht produziert werden.

Die Zahlen sind düster. Sieben US-Angriffe seit Anfang September, mindestens 32 Tote. Unter ihnen meist Unbeteiligte, Unschuldige. Unsere Recherchen laufen. Es gibt keine unabhängige Untersuchung, die Trump-Regierung beruft sich auf ein juristisches Gutachten, wonach sich die USA in einem „bewaffneten Konflikt“ mit den Drogenkartellen befänden. Das ermögliche tödliche Gewalt auch jenseits nationaler Grenzen. In einem Schreiben an den Kongress erklärte Trump, Schmuggler seien „unlawful combatants“. Die Rechtsgrundlage ist mehr als nur fragil; viele Völkerrechtler halten sie für nicht haltbar. Doch solange niemand den Mut hat, sie anzufechten, bleibt sie in Kraft.

Siehe auch unseren Artikel: „Tote, die keine Schlagzeilen wert sind – Wie Trumps Karibikkrieg unschuldige Fischer trifft“ unter dem Link: https://kaizen-blog.org/tote-die-keine-schlagzeilen-wert-sind-wie-trumps-karibikkrieg-unschuldige-fischer-trifft/

Für Kolumbien könnte der Preis gewaltig sein. Schon jetzt ist die amerikanische Unterstützung drastisch gekürzt: Von über 700 Millionen Dollar im Jahr 2023 auf geschätzte 230 Millionen in diesem Haushaltsjahr. Mit Trumps jüngstem Befehl droht nun ein vollständiger Stopp. Das träfe nicht nur Militär- und Polizeiprogramme, sondern auch zivile Projekte, die den Frieden mit den ehemaligen FARC-Rebellen absichern sollen. Elizabeth Dickinson von International Crisis Group warnte, die USA seien „drauf und dran, ihren wichtigsten Partner in Lateinamerika zu entfremden – mitten in der heikelsten Phase der venezolanischen Krise“. Der Verlust der amerikanischen Unterstützung, sagte sie, könne „katastrophale Auswirkungen“ auf die Stabilität der Region haben.

Gleichzeitig explodiert die Heuchelei. Die USA, die Lateinamerika seit Jahrzehnten zur Frontlinie ihres „War on Drugs“ erklären, sind selbst der größte Konsummarkt für Kokain. Kolumbien bleibt der Hauptproduzent der Welt, doch die Nachfrage stammt aus New York, Miami, Los Angeles. Petro, der sich seit Amtsantritt als Reformer und Gegner der Kokainökonomie positioniert, spricht von einem „neuen Ansatz, der Frieden und nicht Krieg“ suche. Seine Gegner in Bogotá nennen das Schwäche. Trump nennt es „Kollaboration mit Kriminellen“. Dass Petros Regierung dennoch regelmäßig Labore zerstören und Tonnen von Drogen beschlagnahmen lässt, passt nicht ins Bild der amerikanischen Rhetorik, die simple Feinde braucht.

Während Trump in Florida seine Anhänger mit der Härte gegen „Narco-Staaten“ füttert, wächst in Lateinamerika die Furcht vor einer Militarisierung, die keine Grenzen mehr kennt. Die B-52-Bomber, die vor Venezuelas Küste kreisen, erinnern an Zeiten, als Washington lateinamerikanische Politik noch diktierte. Heute tun es Raketen, Drohnen und Sanktionen. Dass Petro Maduro nicht fallen sehen will, ist weniger Ideologie als Realpolitik: Kolumbien hat bereits über zwei Millionen venezolanische Flüchtlinge aufgenommen; ein Krieg in Caracas würde das Land destabilisieren. Doch Trump, umgeben von Beratern, die von einem „neuen Panama-Moment“ sprechen, will Resultate.

Kolumbiens Präsident Gustavo Petro

In der Wut der beiden Präsidenten spiegelt sich mehr als persönliche Eitelkeit – es ist der Zusammenstoß zweier Weltbilder. Auf der einen Seite ein Nationalist, der Macht mit Strafexpeditionen verwechselt und Recht durch Stärke ersetzt. Auf der anderen ein Linker, der sich auf Souveränität beruft, während sein Land wirtschaftlich und militärisch vom Norden abhängt. Zwischen ihnen liegt ein Meer, in dem die Toten treiben, ohne dass jemand weiß, wer sie waren.

Und irgendwo dazwischen, in der Nacht des 15. September, saß ein Mann auf einem beschädigten Boot, das keine Waffe trug und kein Befehlssystem kannte. Er hieß Alejandro Carranza, 52 Jahre alt, Vater von drei Kindern, Fischer seit seiner Jugend. Die Rakete, die ihn traf, war amerikanisch. Sie kam aus einem Krieg, den niemand erklärt, und aus einer Politik, die längst keinen Unterschied mehr kennt zwischen Feind, Verdacht und Zufall. Dass Trump ihn aus den Schlagzeilen tilgen will, sagt alles über die Zeit, in der wir leben: Eine Zeit, in der Wahrheit nur noch das ist, was im eigenen Feed überlebt.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
0
Would love your thoughts, please comment.x