Die Horrornacht von Mississippi

VonRainer Hofmann

Oktober 12, 2025

Was als Wochenende der Freude begann, endete in Blut und Fassungslosigkeit. Wir haben bewusst auf Bilder verzichtet, denn die Szenen vor Ort überschreiten die Grenze des Zumutbaren. In Mississippi, jenem tiefen, flachen Herzstück Amerikas, in denen Freitag- und Samstagnächte dem Football gehören und Homecoming mehr ist als nur ein Spiel, verwandelten sich zwei Schulfeiern in Tatorte. Acht Menschen sind tot, darunter eine schwangere Frau. Mehr als zwanzig weitere wurden verletzt. In Leland, einem Ort mit kaum viertausend Einwohnern, liegen die Straßen jetzt still – nur das Flattern zerrissener Polizeibänder erinnert an die Nacht, in der die Gemeinschaft ihren Atem verlor.

Die Schüsse fielen kurz nach dem Homecoming-Spiel der Leland High School, irgendwo zwischen Musik, Gelächter und den letzten Autohupen, mit denen Schüler ihre Mannschaft feierten. Augenzeugen berichten, dass Menschen einfach auf der Hauptstraße standen, redeten, tanzten, als plötzlich Chaos ausbrach. „Es war das Schrecklichste, was ich je gesehen habe“, sagte Camish Hopkins, eine Frau aus der Stadt, nachdem sie im Rathaus mit Behördenvertretern gesprochen hatte. Sie sah Menschen blutüberströmt auf dem Asphalt liegen, sah vier Körper nebeneinander, während andere versuchten, in Deckung zu gehen. „Leland hat Leland im Stich gelassen“, sagte sie, „aber ich weiß, dass wir es besser können – denn das hier ist nicht Leland.“

Die Bilanz: Sechs Tote, vier davon am Tatort, zwei weitere starben später im Krankenhaus. Rund zwanzig Verletzte wurden in Kliniken gebracht, einige mit Hubschraubern bis in die Hauptstadt Jackson geflogen. Unter den Verletzten sind mehrere Jugendliche. Noch am Samstagvormittag suchten Ermittler der Washington County Sheriff’s Office nach Spuren, während Angehörige im Rathaus auf Antworten warteten, die niemand geben konnte. Der Tatort liegt keine hundert Meter von einem Denkmal für den Soulsänger Tyrone Davis entfernt – als wolle der Zufall selbst eine bittere Ironie hinzufügen.

„Es war einfach sinnlose Waffengewalt“, sagte der demokratische Senator Derrick Simmons, der selbst aus dem Delta stammt und mit der Polizei in Kontakt steht. „Was wir erleben, ist die Folge einer Flut an Waffen, die in Umlauf sind.“ Er klang nicht wütend, sondern erschöpft – wie jemand, der diesen Satz schon zu oft gesagt hat. Keine Festnahmen, keine Verdächtigen, kein Motiv. Nur die Gewissheit, dass aus einer Feier des Zusammenhalts eine Nacht der Zerstörung geworden ist.

Während Leland noch um Fassung rang, ereignete sich 220 Kilometer östlich das nächste Blutbad. In Heidelberg, einem winzigen Ort mit kaum 640 Einwohnern, fielen während des Homecoming-Spiels der lokalen High School Schüsse auf dem Schulgelände. Zwei Menschen starben. Ob Schüler oder Besucher, wollte die Polizei zunächst nicht sagen. Der örtliche Polizeichef Cornell White sprach am Morgen von einem „laufenden Einsatz“, ein Verdächtiger sei auf der Flucht. Später erklärte das Sheriff’s Office, man suche einen 18-jährigen Mann zur Befragung. Die Ermittlungen laufen unter Beteiligung der staatlichen Kriminalpolizei. Der Gouverneur von Mississippi, Tate Reeves, schrieb in sozialen Medien: „Unser Staat betet für die Opfer und ihre Familien, ebenso wie für die Gemeinden in Heidelberg und Leland. Die Verantwortlichen werden zur Rechenschaft gezogen.“ Worte, die in den Ohren vieler Bewohner hohl klingen dürften. Denn sie haben sie schon zu oft gehört – nach Jackson, nach Biloxi, nach Greenville. Nach jeder Schießerei, die auf keinem nationalen Radar erscheint, weil sie sich nicht in einer Großstadt, sondern in einem kleinen, vergessenen Ort ereignet.

In einem dritten Fall, in Sharkey County, wiederum im Delta, meldete Sheriff Herbert Ceaser eine weitere Schießerei nach einem Highschool-Spiel. Zwei Verdächtige seien festgenommen worden. Über Verletzte wurde zunächst nichts bekannt, doch die Formulierung „unsere Gedanken und Gebete sind bei der Familie des Opfers“ spricht für sich. Es sind Phrasen geworden, die in den amerikanischen Süden gehören wie die Kirchenglocken am Sonntag.

Was sich in dieser Nacht abspielte, ist mehr als eine Aneinanderreihung lokaler Tragödien. Es ist ein Spiegel der Erschöpfung einer Gesellschaft, die den Tod von Kindern, Freunden, Nachbarn längst in Routine verwandelt hat. In Mississippi, wo das Recht auf Waffenbesitz fast religiösen Rang hat, bleibt der Gedanke, dass die eigenen Jugendlichen im Kugelhagel sterben könnten, eine politische Zumutung. Die Diskussionen werden folgen, kurz und heftig, ehe sie wieder im Schweigen versanden – bis zur nächsten Sirene, zum nächsten Homecoming, zum nächsten Massaker. Am Samstagmorgen war die Innenstadt von Leland leer. Nur eine Handvoll Reporter standen an der gelben Absperrung, während ein Windstoß die Reste eines Papierbanners über die Straße trieb, auf dem in verblassten Buchstaben „Go Tigers“ stand. Hinter den Fenstern sah man Familien, die ihre Türen geschlossen hielten, als wolle man den Lärm der Nacht aussperren. Doch es gibt keinen Ort, an dem man den Klang von Schüssen vergessen kann. Nicht in Mississippi, nicht mehr in Amerika.

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Ela Gatto
Ela Gatto
9 Stunden zuvor

„Unser Staat betet für die Opfer und ihre Familien, ebenso wie für die Gemeinden in Heidelberg und Leland.“

Das ist wirklich nur eine Phrase.

Beten schützt nicht.
Beten bringt die Toten nicht zurück.

Aber die Pro-Life Partei der Republikaner ist nicht im Geringsten daran interessierteben zu schützen.
Es sei denn, sie sind noch ein Embryo.

Das sind alles derart verlogene Menschen.
Gehen in die Kirche, beten was Das Zeug hält, aber sorgen nicht für einen gewissen Schutz.

Und so sterben weiter Menschen.
Kinder die noch ihr Leben vor sich hatten.

Und anstatt was zu ändern, wird weiter gebetet.

bahe
bahe
8 Stunden zuvor
Reply to  Ela Gatto

Ich will niemanden seinen Glauben absprechen, viele glauben ja an die Kraft von Gebeten, aber jedesmal diese hohlen Sätze sind unerträglich. Es ist bigott. Aber wird sich etwas ändern? Nein, ganz bestimmt nicht. Es macht mich wütend, dass Unschuldige für die (entschuldigt den Ausduck) Geilheit der Amerikaner auf ihre Waffen mit ihrem Leben zahlen müssen. Zitat Charlie Kirk: „Ich denke, es ist es wert, leider jedes Jahr ein paar Schusswaffentote zu haben, damit wir den Zweiten Zusatzartikel haben können, um unsere anderen gottgegebenen Rechte zu schützen.“ Ekelhaft!

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