Die Erzählung ist simpel: Mehr Personal, härteres Durchgreifen, mehr Sicherheit. Die Realität dahinter ist komplizierter – und gefährlicher. Unsere Auswertung interner ICE-Zahlen, behördlicher Antworten auf Anfrage und öffentlich zugänglicher Datensätze zeigt: Trumps Abschiebungsmaschine wächst – und sie wächst vor allem, indem sie Ermittler aus anderen Behörden abzieht. Nicht ICE trägt den Großteil der Last, sondern ein Flickenteppich aus Bundes- und Landesbeamten, die ursprünglich für Terrorabwehr, Waffenhandel, organisierte Kriminalität und Mordermittlungen zuständig sind. Kern des Apparats ist die ICE-Direktion Enforcement and Removal Operations, kurz ERO. Laut Behördenangaben verfügt ERO über etwas mehr als 6.100 eigene Abschiebungsbeamte. Das Entscheidende aber steht eine Ebene tiefer in den Tabellen: ERO wurde in diesem Sommer von rund 42.000 nicht zu ERO gehörenden Kräften unterstützt – ungefähr 28.000 aus Bundesbehörden und über 13.000 aus Staaten und Kommunen. Anders gesagt: Nur etwa 13 Prozent des Personals, das Trumps Abschiebungsagenda auf der Straße umsetzt, ist tatsächlich bei ERO angestellt. Der Rest wird aus anderen Aufgaben abgezogen – primär aus der klassischen Kriminalitätsbekämpfung.

Das hat Folgen, die sich nicht mit PR-Sprüchen übertönen lassen. In mehreren Bundesbehörden wurden Teams „auf Zeit“ in ERO-Einsätze umgeschichtet, teils per E-Mail-Order, teils als längerfristige Details. Besonders auffällig ist die Größenordnung: Allein beim Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives (ATF) wurden Mitte des Sommers rund 1.500 Mitarbeiter für ERO-Unterstützung gemeldet – ein tiefer Griff in die Kapazitäten einer Behörde, die eigentlich Waffenschmuggel und Serien von Schusswaffenverbrechen aufarbeiten soll. Parallel meldete ICE mehr als 12.000 Unterstützungskräfte aus der Ermittlungsdirektion Homeland Security Investigations (HSI) – eine Zahl, die sogar die öffentlich ausgewiesene Gesamtbelegschaft von HSI übersteigt. Auf unsere Nachfrage zu den Differenzen erhielten wir keine inhaltliche Klarstellung.
Was auf dem Papier wie Effizienz wirkt, erzeugt in der Praxis Ermittlungsbrüche. Aus FBI-Büros wurden Spezialisten abgezogen, die normalerweise Terrorismus, Gegenspionage und groß angelegte Cyberdelikte bearbeiten. Nach einem Anschlag im Frühsommer wurden einige dieser Kräfte stillschweigend wieder in ihre Stammaufgaben zurückgeschickt – ein implizites Eingeständnis, dass die Umwidmung die nationale Sicherheit geschwächt hatte. Wer „Sicherheit“ sagt und Ermittler aus Terror- und Waffenfällen in zivilrechtliche Abschiebungen umlenkt, baut ein Theater, keinen Schutzwall.
Die Umleitung endet nicht auf Bundesebene. ERO rekrutiert „auf Zeit“ aus Sheriffs-Departments und Stadtpolizeien – häufig mit Lohnkostenerstattung und Bonusmechanismen, wenn Kommunen besonders hohe Quoten bei von ICE „angetippten“ Zielpersonen erzielen. Diese Strukturen docken an zwei bereits etablierte Hebel an: Erstens an „Secure Communities“, das jede Fingerabdrucknahme in lokalen Wachen automatisch mit DHS-Datenbanken abgleicht und so ICE-Hinweise triggert. Zweitens an 287(g)-Kooperationen nach dem Einwanderungs- und Nationalitätsgesetz, in deren „Jail-Modell“ Gefängnismitarbeiter im Auftrag von ICE Vorladungen und Überstellungen vorbereiten. Beides verschiebt kommunale Ressourcen in Richtung Zivilrecht – und weg von Mord, Vergewaltigung, schwerer Körperverletzung.
Dass diese Vermischung die eigentliche Strafverfolgung stört, ist nicht nur Theorie. Bereits 2018 warnten leitende HSI-Agenten in einem Brief an die DHS-Spitze, die enge Verknüpfung mit ERO-Abschiebungen untergrabe verdeckte Ermittlungen, zerstöre Quellenbeziehungen und gefährde den Erfolg in Fällen von Kinderausbeutung, Drogen- und Menschenhandel. Das strukturelle Problem hat sich mit der jetzigen Detail-Welle nicht verkleinert, sondern vergrößert. Hinzu kommt: ICE-„Detainer“ bleiben zivilrechtliche Anfragen – keine Haftbefehle. Mehrere Gerichtsentscheidungen haben Kommunen bereits attestiert, dass ein Festhalten ausschließlich aufgrund eines Detainers ohne richterliche Anordnung verfassungsrechtlich heikel ist. Für Polizeichefs bedeutet das ein juristisches Dilemma: Entweder sie binden Personal in eine Bundesagenda, die sie vor Ort rechtlich angreifbar macht, oder sie riskieren politischen Druck und Mittelentzug.
Die Bilanz dieser Verschiebung ist so nüchtern wie ernüchternd. Auf dem Papier wachsen die Kräfte der Abschiebung. In den Revieren wachsen zugleich die Liegenbleiber: offene Deliktsserien, verschobene Tatortanalysen, verwaiste Arbeitsstände. Wo Ermittlerinnen und Ermittler in Sammelstellen und Fugitive-Teams rotieren, fehlen sie bei Spurensicherung, Zeugenarbeit und Fallaufbau. Und dort, wo Abschiebung die Schlagzeile ersetzt, bleibt Strafverfolgung die Fußnote. Die Regierung verkauft das als Priorisierung. In Wahrheit ist es eine Prioritätsvertauschung. Wer landesweit 42.000 Kräfte von ihrer Kernarbeit abzieht, um eine zivilrechtliche Agenda zu beschleunigen, entzieht der Kriminalitätsbekämpfung Sauerstoff. Wer ATF-Ermittler aus Waffenfällen, HSI-Spezialisten aus Kinderausbeutungsfällen und FBI-Analysten aus Terrorlagen herauslöst, schafft keine Sicherheit – er schafft Lücken.
Es bleibt die einfache Frage, die jede Stadt, jeder Sheriff und jedes Bundesbüro beantworten muss: Was passiert in der Zeit nicht, in der wir Abschiebungen fahren? Welche Schusswaffe wird nicht zurückverfolgt, welche Tätergruppe nicht identifiziert, welcher Tatort nicht nachbereitet? Sicherheit misst sich nicht an der Zahl der Busse, die zu Sammelstellen rollen, sondern an der Zahl der Verbrechen, die wir verhindern und aufklären. Solange das politische Marketing „Härte“ mit „Sicherheit“ verwechselt, wird diese Verschiebung weitergehen. Unsere Aufgabe als Journalisten ist es, die Zahlen in die Wirklichkeit zu übersetzen: Wen ziehen sie ab, wofür – und was kostet es dort, wo die Kriminalität tatsächlich stattfindet. Das Ergebnis ist heute schon sichtbar. Es ist eine Republik, die ihre Ermittler aus dem Maschinenraum holt, um Kulissen zu schieben – und die dafür einen Preis zahlen wird, den keine Pressekonferenz kaschiert.
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