Nach dem Sturm – South Shore und die Spuren einer ICE-Razzia

VonRainer Hofmann

Oktober 4, 2025

Was bleibt, wenn ein Gebäude mitten in der Nacht von Hunderten schwer bewaffneten Bundesbeamten überfallen wird? In Chicagos South Shore zeigt sich die Antwort in Scherben, zerstörten Türen, Blutspuren auf dem Boden und Bewohnern, die ihr Zuhause nicht wiedererkennen. Am Dienstag gegen zwei Uhr morgens brach die Razzia über das 130-Wohnungen große Haus an der 7500 South Shore Drive herein – mit Helikoptern, U-Haul-Trucks, Sturmhauben und automatischen Gewehren. Zurück blieben Chaos, offene Türen, verschwundene Wertsachen und eine Atmosphäre, die Bewohner nur mit einem Wort beschrieben: Hölle.

Ein Army-Veteran, drei Jahrzehnte im Dienst der Post, blind geworden und auf den Stock angewiesen, hörte das Rammen seiner Wohnungstür. „Ich habe gesagt, die müssen sich irren“, erzählt er. Doch die Beamten hörten nicht zu. Wenige Meter weiter, im Apartment von Rodrick Johnson, einem US-Bürger, krachten FBI-Leute durch die Tür, nachdem Anwohner „Leute auf dem Dach“ gehört hatten. Johnson wurde mit Nachbarn in einen Van gedrängt, stundenlang ohne Erklärung festgehalten. „Sie sagten nicht, warum ich festgenommen war. Sie ließen Türen offen, Geld und Waffen lagen im Flur herum.“

Laut DHS wurden mindestens 37 Menschen festgenommen, darunter nach Augenzeugen auch Frauen und Kinder. Offiziell heißt es, das Haus sei ein Rückzugsort venezolanischer Migranten gewesen, angeblich mit Verbindungen zur Bande Tren de Aragua. Doch weder Durchsuchungsbefehle noch Namen wurden gezeigt, und die Inszenierung hatte den Charakter einer PR-Operation: NewsNation war von Anfang an eingeladen, die Kameras liefen. „Es waren Familien mit Kindern, die mitten in der Nacht abgeführt wurden“, sagt Brandon Lee von der Illinois Coalition for Immigrant and Refugee Rights. „Die Regierung will Bilder produzieren, die Nachbarschaften gegeneinander aufhetzen.“

Die Realität vor Ort spricht eine andere Sprache. Türen sind herausgebrochen, Wohnungen verwüstet. Bewohner fanden ihre Matratzen, iPads, ja sogar Küchengeräte gestohlen. Zurückgelassen wurden Müll, fremde Kleidung und Blut neben Babyschuhen. Fliegen kreisen um offene Kühlschränke, die Decken sind von Wasserschäden eingestürzt, die Aufzüge kaputt. „Es sieht aus wie die Hölle“, sagt Dan Jones, dessen Wohnung nach der Razzia unbewohnbar ist. „ICE ist nichts anderes als eine Gang.“

Doch die Spur der Verwahrlosung beginnt nicht erst mit den Bundesagenten. Schon vor der Razzia war das Haus ein Sanierungsfall – 14 Jahre in Folge fiel es bei städtischen Inspektionen durch. Feuerlöscher fehlten, Treppenhäuser stanken nach Urin, Sicherheitskräfte waren entfernt worden. Eigentümerin Trinity Flood, Investorin aus Wisconsin, hat sich übernommen: Drei Immobilien in South Shore kaufte sie 2020 für 18 Millionen Dollar, heute steht sie mit 27 Millionen Dollar in der Zwangsvollstreckung. Die Stadt klagt wegen über 15 Bauverstößen. Nach der Razzia wirkt das Gebäude wie aufgegeben. Bewegungsfirmen räumen Wohnungen, niemand weiß in wessen Auftrag. Türen sind notdürftig vernagelt, Wände beschmiert, „Venezuela“ steht auf einer Etage. Manche Nachbarn, die nicht betroffen waren, bekamen E-Mails von der Hausverwaltung mit dem Hinweis, bald neue Schlüssel zu erhalten. Andere kehrten zurück und fanden nichts wieder: zerrissene Möbel, zip ties auf dem Boden, eine Aura von Gewalt.

South Shore ist längst Ankunftsort für venezolanische Migranten, die von Texas und Arizona aus in Bussen nach Chicago geschickt wurden. Viele fanden über staatliche Hilfsprogramme Unterkunft in Häusern wie diesem. Doch als die Zuschüsse ausliefen, blieben sie allein zurück – in Gebäuden, die von Investoren ausgeschlachtet wurden und von Behörden als potenzieller Tatort für die nächste „Operation“ markiert. Für die Anwohner ist das Ergebnis dasselbe: Ein Zuhause, das keines mehr ist. Ein Veteran, der nicht mehr weiß, wie er seine Post sicher bekommt. Familien, die in der Nacht verschleppt wurden. Und Mieter wie Dan Jones, der in Tränen vor seiner zerstörten Wohnung stand, während die Miete fällig wurde. „Meine Wohnung war mal schön“, sagt er leise. Auf dem Weg hinaus versucht er, die zerschlagene Tür noch einmal zuzuziehen.

Es bleibt ein Bild, das mehr erzählt als jede Regierungsbotschaft: ein Haus am South Shore, in dem die Menschen nicht Opfer von Banden wurden, sondern von einer Regierung, die Krieg gegen ihre eigenen Straßen führt – und dabei jene ins Visier nimmt, die am wenigsten haben.

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