Es ist kurz nach acht Uhr morgens, als der Verkehr auf der US Route 1 in Hyattsville, Maryland, ins Stocken gerät. Autohupen, Stau, Routine eines Pendlerkorridors – bis sich mitten auf der Kreuzung mit der Hamilton Street eine Szene entfaltet, die das Herzstück staatlicher Gewalt in den Alltag reißt. Drei Beamte des Immigration and Customs Enforcement (ICE) ringen mit einem Mann. Er schreit, wieder und wieder: „I am American. Please help me.“ Seine Stimme trägt über den Verkehrslärm, ein verzweifelter Appell, der von den Motorhauben der wartenden Autos zurückhallt.
Ein ICE-Agent versucht gleichzeitig, den Mann zu fixieren und seine Dienstpistole in den Hosenbund zu klemmen. Die Waffe entgleitet ihm, fällt klirrend auf den Asphalt, wird hektisch wieder aufgenommen – und in diesem Moment richtet sich der Lauf nicht auf den Verdächtigen, sondern auf die Menge. „Nimm die Waffe runter!“ ruft jemand von der Seite. „Willst du mich erschießen?“ fragt eine Frau, deren Handy die Szene filmt. Für Sekunden steht die Kreuzung still: Kinder auf den Rücksitzen, Pendler, die nicht wissen, ob sie fliehen oder stehenbleiben sollen, und ein Beamter, dessen Finger am Abzug liegt.

Der Ort könnte kaum öffentlicher sein. Die Route 1 führt direkt in die Hauptstadt, das Kreuzungsdreieck ist einer der belebtesten Verkehrsknotenpunkte des Prince George’s County. Hier, nur zehn Meilen vom Weißen Haus entfernt, hat ein ICE-Zugriff die Normalität gesprengt. Das Video, aufgenommen vom Fotografen Raphi Talisman, zeigt den chaotischen Zugriff in voller Länge. Es ist längst viral gegangen und hat eine Debatte entfacht, die weit über Hyattsville hinausreicht.
Denn was auf dem Asphalt sichtbar wird, ist mehr als eine missglückte Festnahme. Es ist das Sinnbild einer Behörde, die ihre Einsätze in den öffentlichen Raum verlagert – mitten in den Berufsverkehr, hinein in das Leben Unbeteiligter. ICE-Aktionen sind nicht länger abgeschottete Operationen an Flughäfen oder in Gerichtssälen. Sie sind Teil des Alltags, vollstreckt im Stau, in Wohnvierteln, auf offener Straße. Dass dabei eine Dienstwaffe in die Hände eines überforderten Beamten fällt und auf eine Menschenmenge gerichtet wird, markiert die Eskalation dieses Kurses.
Die ICE-Führung verweist bislang auf „interne Prüfungen“. Doch in Hyattsville liegen längst Strafanzeigen vor: Anwohner, Journalisten, darunter auch wir, und Zeugen haben bei der Staatsanwaltschaft Anzeige eingereicht, mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen sprechen von einem klaren Fall von Gefährdung Unbeteiligter. Juristen weisen darauf hin, dass es nicht nur um Disziplinarverfahren gehen könnte, sondern auch um strafrechtliche Konsequenzen für fahrlässigen Umgang mit einer Schusswaffe im öffentlichen Raum.
Die Bilder aus Hyattsville zeigen, wie dünn die Linie ist, die den Anspruch auf Sicherheit von der realen Gefährdung trennt. Ein Mann wird unter Schlägen und Griffen zu Boden gebracht, während er „I am American“ ruft. Ein Bundesagent verliert die Kontrolle über seine Pistole und richtet sie auf Passanten. Die Kreuzung, Sinnbild urbaner Routine, wird zur Frontlinie.
Der Fall ist ein Offenbarungseid für ein Land, in dem eine Einwanderungsbehörde immer aggressiver agiert, ein Präsident mehr und mehr außer Kontrolle gerät – und dabei Grenzen überschreitet, die sie eigentlich schützen sollte. Hyattsville hat für Sekunden den Ausnahmezustand erlebt. Zurück bleibt die Frage, wie viele solcher Szenen unbemerkt bleiben – doch wir setzen alles daran, diese Fälle sichtbar zu machen, sie konsequent zu verfolgen und den Betroffenen Unterstützung zu sichern.
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