Als London brannte: Der Tag, an dem 150.000 marschierten

VonRainer Hofmann

September 14, 2025

Der Regen peitschte in unregelmäßigen Schauern über die Westminster Bridge, als sich an jenem Samstag im September 2025 eine Menschenmasse formierte, wie sie London selten gesehen hatte. Hunderttausende strömten durch die Straßen der britischen Hauptstadt, ihre Flaggen – Union Jacks und das rote Kreuz des heiligen Georg – flatterten wie Kriegsbanner im Wind. Was als Demonstration für Redefreiheit angekündigt war, entpuppte sich als etwas weitaus Düstereres: der vielleicht größte Aufmarsch der extremen Rechten in der jüngeren Geschichte Großbritanniens.

Tommy Robinson

Tommy Robinson (bürgerlich Stephen Yaxley-Lennon) ist der Gründer der English Defence League (EDL), einer islamfeindlichen Straßenbewegung, die von britischen Behörden und Forschern seit Jahren als rechtsextrem beschrieben wird. Er wurde mehrfach wegen Hassrede, Gewaltaufrufen und Volksverhetzung verurteilt und steht auf der Watchlist zahlreicher Extremismus-Analysten.

Tommy Robinson, stand im Zentrum dieses Sturms. Der 42-jährige Rechtsextremist, gerade erst aus dem Gefängnis entlassen, hatte zu seinem „Unite the Kingdom“-Marsch aufgerufen. Doch Robinson war längst nicht mehr nur eine Randfigur der britischen Politik. Hinter ihm stand nun die Macht der globalen Tech-Elite: Elon Musk, der reichste Mann der Welt, sprach per Videoschaltung zu den Massen und rief zum Kampf auf. „Ihr müsst zurückschlagen oder ihr werdet sterben“, donnerte seine Stimme über den Whitehall, während die Menge johlte und seinen Namen skandierte.

Die Bilder, die an diesem Tag entstanden, brannten sich ins kollektive Gedächtnis ein: Ein Meer aus Menschen, das sich von Big Ben über die Themse bis zum Waterloo-Bahnhof erstreckte, mehr als einen Kilometer weit. Polizisten in Kampfmontur, die verzweifelt versuchten, die Barrieren zwischen den Robinson-Anhängern und den 5.000 Gegendemonstranten zu halten. Flaschen, die durch die Luft flogen und auf Helmen zerschellten. Ein Polizeipferd, das nach einem Flaschentreffer zurückstolperte. Blut, das über das Gesicht eines Mannes lief, während er von Beamten weggeführt wurde.

Die neue Internationale des Zorns

Was sich in London abspielte, war mehr als ein britisches Phänomen. Es war die sichtbare Manifestation einer transnationalen Bewegung, die sich über soziale Medien organisiert und von Milliardären befeuert wird. Steve Bannon, der Architekt von Donald Trumps erstem Wahlsieg, war als Redner angekündigt gewesen, blieb dann aber in den USA, um von dort aus seine Unterstützung zu senden. Der französische Rechtsextremist Eric Zemmour sprach von einer „großen Ersetzung“ der europäischen Völker. Die Botschaft war klar: Dies war kein isolierter Protest, sondern Teil eines größeren Krieges um die Seele des Westens.

Die Wut, die sich an diesem Tag entlud, hatte sich über Monate aufgestaut. Der Sommer 2025 war geprägt gewesen von Protesten vor Hotels, in denen Asylsuchende untergebracht waren. Der Auslöser: Die Verhaftung eines äthiopischen Mannes wegen sexueller Übergriffe auf eine 14-Jährige. Für Robinson und seine Anhänger war dies der Beweis für das, was sie schon immer behauptet hatten: dass die Migration außer Kontrolle geraten sei, dass die eigene Regierung das Volk verraten habe.

„Die Migranten haben jetzt mehr Rechte vor Gericht als das britische Volk, die Menschen, die diese Nation aufgebaut haben“, rief Robinson mit heiserer Stimme in die Menge. Es war eine Botschaft, die verfing. Die Menschen, die gekommen waren – viele von ihnen gewöhnliche Bürger, keine Skinheads oder offensichtliche Extremisten – trugen Schilder mit Aufschriften wie „Stoppt die Boote“, „Schickt sie nach Hause“ und „Es reicht, rettet unsere Kinder“.

Die Technologie des Hasses

Musks Auftritt markierte einen Wendepunkt. Hier stand nicht irgendein Extremist am Rand der Gesellschaft, sondern der Mann, der Twitter gekauft und in X verwandelt hatte, der Mann, dessen Satelliten die Ukraine mit Internet versorgten, dessen Elektroautos als Symbol des Fortschritts galten. Seine Worte waren eine Kriegserklärung an die britische Demokratie: „Es muss eine Auflösung des Parlaments geben und eine neue Wahl.“ Die Masse jubelte. Was Musk und Robinson verstanden hatten, war die Macht der digitalen Mobilisierung. Robinsons Account, 2018 von Twitter verbannt, war nach Musks Übernahme wieder aktiviert worden. Nun konnte er ungehindert seine Botschaften verbreiten, konnte behaupten, „MILLIONEN“ seien gekommen (die Polizei zählte zwischen 110.000 und 150.000), konnte Videos posten von jungen Franzosen, die zu Ehren des erschossenen amerikanischen Aktivisten Charlie Kirk gekommen waren.

Die Ironie war nicht zu übersehen: Männer, die behaupteten, für Redefreiheit zu kämpfen, forderten gleichzeitig die Auflösung eines demokratisch gewählten Parlaments. Männer, die sich als Verteidiger britischer Werte ausgaben, nahmen ihre Befehle von einem südafrikanisch-amerikanischen Milliardär entgegen.

Das Versagen der Mitte

Während sich auf den Straßen Londons die Gewalt entlud – 26 Polizisten wurden verletzt, vier davon schwer, mit gebrochenen Zähnen, Gehirnerschütterungen und möglichen Wirbelsäulenverletzungen – saß Premierminister Keir Starmer im Emirates Stadium und schaute seinem Lieblingsfußballverein Arsenal zu. Das Bild war verheerend: Der Regierungschef bei der Freizeitgestaltung, während seine Hauptstadt brannte. Die Labour-Regierung, erst seit kurzem im Amt, schien überfordert von der Wucht des Protests. Eine lahme Stellungnahme verurteilte die Gewalt, aber die eigentlichen Fragen blieben unbeantwortet: Wie konnte es soweit kommen? Warum fühlten sich so viele Menschen so entfremdet von ihrem eigenen Land, dass sie einem mehrfach verurteilten Rechtsextremisten und Gewalttäter wie Robinson folgten?

Wir werden in den kommenden Wochen eine eigene Recherche starten – mit neuen Blickwinkeln und völlig anderen Ansatzpunkten.

Tim Booth, Frontmann der Band James, zeigte sich angewidert darüber, dass ihr Song Sit Down ohne Genehmigung bei der „Unite the Kingdom“-Kundgebung in London und in einem von Tommy Robinson geteilten Video verwendet wurde. Er nannte die Nutzung zynisch, betonte, dass Robinsons Botschaft der Haltung der Band widerspreche, und kündigte an, rechtliche Schritte zu prüfen.

Die Antwort lag teilweise in den kleinen Booten, die täglich über den Ärmelkanal kamen, überfüllt mit Menschen, die ein besseres Leben suchten. Für die einen waren sie Flüchtlinge, die Schutz verdienten. Für die anderen waren sie Eindringlinge, die das zerstörten, was Großbritannien ausmachte. Dazwischen gab es kaum noch Raum für Nuancen, für vernünftige Diskussionen über Migrationspolitik, Integration oder die wirtschaftlichen Realitäten einer alternden Gesellschaft.

Die Stunde der Demagogen

Robinson verstand es meisterhaft, diese Ängste zu instrumentalisieren. Mit seiner rauen Stimme und seinem Arbeiterklasse-Akzent sprach er zu Menschen, die sich von der politischen Elite verlassen fühlten. Er war einer von ihnen, suggerierte er, auch wenn er in Wirklichkeit von amerikanischen Tech-Milliardären und rechtsextremen Netzwerken finanziert wurde.

Die Gegendemonstration von „Stand Up To Racism“ mit ihren 5.000 Teilnehmern wirkte dagegen fast schon kläglich. Die Veteranin Diane Abbott sprach davon, dass Rassismus und Faschismus nicht neu seien, dass man sie schon immer besiegt habe. Aber ihre Worte klangen hohl angesichts der schieren Masse auf der anderen Seite der Polizeibarrieren.

Als der Tag sich dem Ende zuneigte, war klar, dass sich etwas Fundamentales verschoben hatte. Dies war nicht mehr der alte Rechtsextremismus der Glatzen und Springerstiefel. Dies war etwas Neues, Gefährlicheres: Eine Bewegung, die sich den Anstrich der Respektabilität gab, die von den reichsten und mächtigsten Menschen der Welt unterstützt wurde, die modernste Technologie nutzte, um uralte Ressentiments zu schüren.

Die Welt im Griff des Zorns

Was in London geschah, war kein isoliertes Ereignis. Von Washington bis Warschau, von Rom bis Rio de Janeiro erheben sich ähnliche Bewegungen. Sie alle erzählen die gleiche Geschichte: Dass die eigene Kultur bedroht sei, dass Fremde kämen, um zu nehmen, was einem zustehe, dass nur ein starker Mann – immer ist es ein Mann – die Nation retten könne. Die wahre Tragödie lag nicht nur in der Gewalt dieses Tages, nicht nur in den verletzten Polizisten und den zerbrochenen Barrieren. Sie lag in der Tatsache, dass vernünftige Diskussionen über reale Probleme – über Migration, Integration, wirtschaftliche Unsicherheit – unmöglich geworden waren. Stattdessen gab es nur noch Geschrei, nur noch Wut, nur noch den Ruf nach radikalen Lösungen für komplexe Probleme.

Als Robinson am Abend die Bühne verließ und eine weitere Veranstaltung versprach, war klar: Dies war erst der Anfang. Die Kräfte, die an diesem Tag entfesselt wurden, ließen sich nicht einfach wieder einfangen. In einer Welt, in der Milliardäre per Videoschaltung zum Umsturz aufrufen können, in der Soziale Medien Hass schneller verbreiten als jede Polizei reagieren kann, in der die Wahrheit nur noch eine Meinung unter vielen ist, scheint der Abstieg in Chaos und Gewalt fast unausweichlich. Die 25 Verhafteten waren, wie die Polizei sagte, „nur der Anfang“. Aber wovon genau der Anfang? Diese Frage hing über London wie der Rauch über einem Schlachtfeld. Die Schlacht war geschlagen, aber der Krieg – der Krieg um die Zukunft Großbritanniens, Europas, der westlichen Demokratie selbst – hatte gerade erst begonnen.

In den Tagen nach dem Marsch würden die Politiker ihre üblichen Plattitüden von sich geben, würden von Recht und Ordnung sprechen, von demokratischen Werten und dem Rechtsstaat. Aber die 150.000 Menschen, die durch London marschiert waren, hörten nicht mehr zu. Sie hatten ihre eigenen Propheten gefunden, ihre eigenen Wahrheiten, ihre eigene Vision einer Zukunft, in der die Fremden verschwunden und die alte Ordnung wiederhergestellt wäre. Das Vereinigte Königreich war nicht mehr vereint. Es war zerrissen, gespalten, am Rande eines Abgrunds. Und während die Politiker noch debattierten und die Experten analysierten, bereitete sich Tommy Robinson bereits auf seinen nächsten Marsch vor. Die Revolution, so schien es, wurde live gestreamt, gesponsert von den reichsten Menschen der Welt, bejubelt von Millionen, die nichts mehr zu verlieren glaubten.

Der Regen hatte aufgehört, als die letzten Demonstranten den Whitehall verließen. Aber der Sturm, der wahre Sturm, hatte gerade erst begonnen.

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Carola Richter
Carola Richter
12 Tage zuvor

Rassismus gibt es auf der ganzen Welt.Der massive Einfluss von Trump und den Technokraten ist deutlich. Labor stört und soll nicht mit Europa zusammen arbeiten und schon gar nicht die NATO stärken. Und Musk will an der KI verdienen, zusammen mit Peter Thiel und anderen Technokraten die Welt beherrschen. Dass der MI6 Starmer nicht unterrichtete, glaube ich nicht. Starmer war bestimmt bewusst weg.

Anja
Anja
11 Tage zuvor

Die Angst der abgehängten weißen Männer wird von Tech Giganten und „Politikern“ die ihre eigene Agenda verfolgen, geschürt.

Ela Gatto
Ela Gatto
11 Tage zuvor

Ein Premier, der lieber Fußball schaut, als sich um diese Eskalation zu kümmern ….
Keiner kann mir sagen, dass er nicht davon unterrichtet wurde.
Aber so war er weit weg und kann nun, wie schön geschrieben, seine Mahnungen verbreiten.

Irgendwie ja passend, dass dieser Aufmarsch und die Abwesenheit Starmers nur zwei Tage vor Trumps Staatsbesuch statt finden.

Einem Staatsbesuch bei dem es Verträge mit den Tech-Giganten, Blackrock etc geben soll.
Anstatt sich innerhalb Europas zu orientieren, hängt man sich an das unzuverlässige und autokratische Amerika.

Frankreich rutscht ab, England rutscht ab.
Was bleibt noch an „starken Ländern“ in der EU?
Putin lacht, denn das alles destabilisiert Europa und damit die Unterstützung der Ukraine.
Und auch die Verteidigungskraft Europas.

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