Die Stadt hält den Atem an – Chicago zwischen Protesten und Bundesdrohung

VonRainer Hofmann

September 10, 2025

Chicago ist in diesen Tagen eine Stadt im Ausnahmezustand – nicht wegen der Kriminalität, sondern wegen der Politik. Während Donald Trump mit der Nationalgarde droht und ICE auf Großrazzien vorbereitet, haben Tausende auf den Straßen der Metropole demonstriert. Transparente mit der Aufschrift „No Trump – No Troops“ bestimmten das Bild, während Bürgerrechtler, Lehrer, Gewerkschaften und Geistliche Seite an Seite marschierten. Bürgermeister Brandon Johnson antwortete mit einem drastischen Schritt: einem Dekret, das der Chicagoer Polizei jede Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden verbietet. Keine Absperrungen für Razzien, kein Transport von Festgenommenen, kein stillschweigend abgestimmtes Vorgehen. Johnson ließ die Beamten sogar anweisen, bei Einsätzen in Uniform und ohne Masken zu erscheinen, damit niemand sie mit ICE-Agenten verwechselt. „Unsere Polizei wird nicht die verlängerte Werkbank des Präsidenten“, sagte er vor laufenden Kameras.

Die Pilsen-Parade zum mexikanischen Unabhängigkeitstag 2025 am Samstag, dem 6. September 2025, ließ sich aber niemand verderben

Die Folgen der Eskalation spüren die Menschen längst im Alltag. Eltern lassen ihre Kinder lieber online am Unterricht teilnehmen, um sie nicht auf der Straße in Gefahr zu bringen. Kleine Geschäfte in mexikanisch geprägten Vierteln melden Umsatzeinbrüche, weil Kunden nicht mehr kommen, aus Angst, in eine Razzia zu geraten. In manchen Nachbarschaften sind die Straßen wie leergefegt. Chicago hat seit vier Jahrzehnten Sanctuary-Status, aber jetzt steht die Stadt vor der Frage, ob sie diesen Schutz unter Bundesdruck aufrechterhalten kann. Schon im Juni kam es zu einer brisanten Szene: ICE verhaftete zehn Menschen in einem Einwanderungsbüro. Erst später wurde klar, dass die lokale Polizei anfangs nicht wusste, dass es sich um eine Bundesaktion handelte – ein Kommunikationsdesaster, das die Debatte im Stadtrat anheizte. Stadträte forderten eine Untersuchung, nachdem Zeugen berichtet hatten, die Polizei habe ICE-Fahrzeuge geschützt.

Die Pilsen-Parade zum mexikanischen Unabhängigkeitstag 2025 am Samstag, dem 6. September 2025, ließ sich aber niemand verderben

Rechtswissenschaftler warnen nun, dass die Trennlinie zwischen städtischer Polizei und Bundesbehörden verwischt. Craig Futterman von der University of Chicago sagt: „Auf dem Papier sind Sanctuary Cities klar geregelt. In der Praxis verschwimmt diese Ordnung, wenn ICE und lokale Polizei gleichzeitig auf den Straßen sind.“ Und das Szenario könnte bald noch brisanter werden: Sollte Trump die Nationalgarde tatsächlich entsenden, wird eine Truppe in der Stadt patrouillieren, die nicht für die Beweissicherung geschult ist und keinen Alltag mit der Bevölkerung teilt. Die juristischen Folgen könnten gravierend sein: Philadelphias Bezirksstaatsanwalt Larry Krasner warnt davor, dass Prozesse scheitern, wenn nicht korrekt belehrt oder Beweise falsch gesichert werden. Und selbst wenn ein massiver Bundesaufmarsch kurzfristig Kriminalität drückt, ist das eine Scheinlösung. „Sobald sie wieder abziehen, kehrt die Gewalt zurück“, warnt Kenneth Corey, ehemaliger NYPD-Chef, heute Dozent in Chicago. „Die Ursachen bleiben.“ So wird Chicago zum Testfall für das ganze Land: Kann eine Stadt ihre Menschen schützen, ihre Wirtschaft am Laufen halten und gleichzeitig dem Druck des Weißen Hauses widerstehen? Oder wird sie am Ende gezwungen, sich dem Bundesdiktat zu beugen? Eines ist klar: Das, was hier geschieht, geht weit über Polizeitaktik hinaus. Es ist ein Kampf um das Selbstverständnis einer Stadt – und vielleicht um die Frage, ob in Amerika noch Raum für lokale Selbstbestimmung bleibt.

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Ela Gatto
Ela Gatto
15 Tage zuvor

Sehr mutig vom Bürgermeister Trump die Stirn bietet.
Gut wäre es, wenn er vom Gouverneur Pritzker direkte Unterstützung bekäme. In dem Pritzker ein ähnliches Dekret für den gesamten Bundesstaat unterzeichnet.

Ich sehe es kommen, dass Trump die Sanctuary Cities zur Aufgabe zwingen wird.
Und es dann als großen Sieg gegen die kriminellen Migrantenbanden verkaufen, was die Demokraten alleine nicht hinbekommen haben.

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