Es war eine Nacht, die in Chongqing so hell leuchtete wie selten zuvor – nicht wegen der Neonfassaden der Megacity, sondern wegen eines einzelnen Projektors. Um 22 Uhr, wenige Tage vor der großen Militärparade in Peking, erschienen auf einer Hauswand mitten im Universitätsviertel gewaltige Schriftzüge: „Nur ohne die Kommunistische Partei kann es ein neues China geben.“ Wenige Sekunden später flammte ein zweiter Satz auf: „Keine Lügen mehr, wir wollen die Wahrheit. Keine Sklaverei mehr, wir wollen Freiheit.“ Eine Botschaft wie ein Donnerschlag – in einer Stadt mit 30 Millionen Menschen, in einem Land, in dem jede Abweichung von der Parteilinie verfolgt wird. Die Behörden brauchten fast eine Stunde, um den Ursprung des Lichts zu finden. Schließlich stürmten fünf Polizisten ein Hotelzimmer, rissen die Vorhänge auf, schalteten den Projektor aus – und blickten direkt in eine Kamera, die auf sie gerichtet war. Auf dem Tisch lag ein handgeschriebener Brief: „Auch wenn ihr heute Nutznießer des Systems seid, eines Tages werdet ihr zwangsläufig Opfer auf diesem Land werden. So behandelt die Menschen bitte mit Güte.“ Wenige Stunden später ging das Video der Razzia online und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Zum ersten Mal war der Überwachungsstaat selbst das Objekt der Überwachung geworden.

„Liebe Freunde!
Ich weiß nicht, wer ihr seid, aber ich weiß, dass ihr auch Mütter, Väter, Ehepartner und Freunde habt. Deshalb schreibe ich euch diese Zeilen. Zuerst möchte ich klarstellen, dass ich keine kriminelle Absicht habe und niemandem schaden möchte. Ich habe diesen Weg nur gewählt, weil ich nicht länger schweigen kann. Bitte seid nicht grausam zu den Menschen, die in diesem Land leben. Bitte verletzt keine unschuldigen Bürger. Auch ihr werdet eines Tages alt, und wenn dieses Land weiter so regiert wird, werden auch ihr und eure Kinder nicht verschont bleiben.Die Menschen haben das Recht, die Wahrheit zu sagen, sie haben das Recht, nach Freiheit zu streben. Wenn man alle Stimmen erstickt, wird das Land zu einem Gefängnis. Ich bitte euch, ein wenig Nachsicht zu zeigen, euch selbst nicht zu den Tätern zu machen. Seid wachsam und denkt daran: Heute mag es für euch wie Pflicht erscheinen, doch morgen kann es euch selbst treffen.
Jeder, der dieses Land liebt, sollte es mit Güte behandeln. Ich hoffe, dass ihr eines Tages zurückblickt und stolz seid, euch für das Richtige entschieden zu haben.“
(Unterschrift, Datum 16. August 2025)
Der Mann hinter dieser Inszenierung heißt Qi Hong. Er hatte China bereits neun Tage zuvor mit Frau und Töchtern verlassen und aus sicherer Entfernung in Großbritannien den Projektor aktiviert, den Polizeieinsatz aufgezeichnet und zusammengeschnitten. „Mein einziger Wunsch war, mich auszudrücken“, sagte er später. „Die Partei installiert Kameras, um uns zu beobachten. Ich dachte, ich könnte dieselbe Methode nutzen, um sie zu beobachten.“ Das Video war mehr als ein Protest – es war eine Parabel auf ein Land, das von rund 700 Millionen Überwachungskameras beobachtet wird, von Gesichtserkennungssoftware, Big-Data-Profilen, Drohnen und einem Sozialkreditsystem, das die kleinsten Abweichungen registriert. Qi drehte die Logik um, und Millionen sahen dabei zu. Innerhalb von vier Tagen erreichten die Clips über 18 Millionen Aufrufe auf chinesischsprachigen Plattformen. „Qi Hong hat die Polizei ausgetrickst, das staatliche Maschinerie überlistet – und sie konnten kaum etwas dagegen tun“, sagte der Blogger Li Ying, der die Videos verbreitete. „Das war ein Schlag gegen den Mythos totaler Kontrolle.“
Qi ist kein Berufsaktivist, sondern ein Mann, der lange versuchte, unauffällig zu bleiben. Geboren 1982 in einem Bergdorf bei Chongqing, verließ er mit 16 die Schule, wurde Wanderarbeiter, mehrfach ohne Aufenthaltsgenehmigung verhaftet und misshandelt. Erst als er mit Onlinehandel auf Taobao erfolgreich wurde, heiratete und eine Wohnung in Peking kaufte, schien sein Leben in ruhigere Bahnen zu kommen. 2013 zog er sich ins Landleben zurück, betrieb eine Paketstation, las buddhistische Texte. Doch zurück in Chongqing entwickelte er einen wachen politischen Sinn.

Die Propaganda in den Schulbüchern seiner Töchter, der überhitzte Nationalismus, die Unterdrückung freier Rede – all das ließ ihn nicht mehr los. Er las Orwells 1984 und Animal Farm, Huxleys Brave New World und begann, auf WeChat schärfere Worte zu posten. Zum Jahrestag des Tian’anmen-Massakers schrieb er: „Das Streben nach Licht ist etwas, wonach sich jeder denkende Mensch sehnen sollte. Licht der Weisheit, Licht der Zivilisation, Licht der Menschlichkeit, Licht der Demokratie.“ Sein Neujahrswunsch für 2024 lautete schlicht: „Möge jeder Freiheit vor Angst haben.“ Als Xi Jinpings große Militärparade angekündigt wurde, fasste er einen Entschluss. Am 10. August mietete er ein Hotelzimmer mit Blick auf ein Hochhaus, probte zehn Tage lang Projektionen mit harmlosen Wünschen wie „sei gesund“, „sei glücklich“. Dann reiste er mit seiner Familie aus. Am 29. August, bereits in London, schaltete er den Projektor ein und filmte die Reaktion der Staatsmacht.
Die Rache folgte sofort: Polizei verhörte seine Mutter vor ihrem Haus, nahm seinen Bruder und einen Freund in Gewahrsam. Qi wusste, dass sein Schritt nicht folgenlos bleiben würde. Doch er sieht sich nicht als Held. „Ich bin nicht mutig“, sagt er, „aber ich konnte nicht länger schweigen.“ Seine Aktion reiht sich ein in eine Serie von kreativen Einzelprotesten, die Chinas autoritäre Fassade zum Riss bringen. Vorbild war Peng Lifa, der „Bridge Man“, der 2022 auf der Sitong-Brücke in Peking Transparente gegen Xi Jinping entrollte und seither spurlos verschwunden ist. Menschenrechtsorganisationen berichten inzwischen, dass Peng heimlich zu neun Jahren Haft verurteilt wurde – wegen angeblicher „Anstiftung zu Streit“ und „Brandstiftung“. Seine Familie hat keinen Zugang zu ihm, seine Haftstätte ist unbekannt. Doch gerade dieser Märtyrerstatus inspiriert Nachahmer. In Chengdu hängte der junge Aktivist Mei Shilin im April 2025 erneut Banner über eine Überführung: „Ohne politische Reform keine nationale Erneuerung.“ Auch er wurde verhaftet, sein Verbleib ist unklar. Blogger wie Li Ying berichten, dass sie in diesem Jahr so viele Protestvideos zugeschickt bekommen wie nie zuvor – ein Indiz, dass sich trotz allgegenwärtiger Überwachung eine neue Generation nicht einschüchtern lässt. Die KPCh reagiert mit Repression, aber auch mit Nervosität. Für ein Regime, das seine Macht auf den Mythos perfekter Kontrolle stützt, sind solche Bilder gefährlich. Sie zeigen, dass selbst im dichtesten Netz noch Lücken existieren – und dass ein einzelner Mann mit einem Projektor die Propagandamaschine aus dem Takt bringen kann. Qi Hong weiß, dass er nicht zurückkehren kann. Seine Zukunft in Großbritannien ist ungewiss, die Familie lebt im Exil. Aber sein Protest hat ein Echo erzeugt, das weit über Chongqing hinausreicht. Er hat die Kamera gedreht – und Millionen Menschen sehen nun nicht mehr nur auf die Propagandabilder der Partei, sondern auf das Gesicht des Staates selbst, der überrascht in die Linse starrt. Vielleicht ist das die stärkste Botschaft: dass selbst in einem Land mit 700 Millionen Kameras nicht jede Wahrheit ausgelöscht werden kann. Manchmal reicht ein einzelner Lichtstrahl, um die Dunkelheit zu brechen.
Fortsetzung folgt …
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Oh…das ist ja gewaltig! Man stelle sich vor, wie die Polizeibeamten in die Linse gestarrt haben! Dieser Mann hat wirklich bewiesen wie man mit intelligenten Aktionen das Lügentheater entlarven kann.
Ich hoffe, dass er mit seiner Familie in Sicherheit ist. Man sieht, wie unglaublich wichtig es ist, Sorge zu unseren Demokratien zu tragen….auch damit wir solchen Menschen Schutz geben können.
Für die Freiheit und Würde aller Menschen!
Vielen Dank für diesen sehr interessanten Bericht❤️!
Ja, eine mega gute Aktion, die wir weiter verfolgen werden
Er sagt, er ist nicht mutig.
Aber er ist genau einer dieser Helden, die es braucht.
Weltweit gegen Terrorregime, Faschismus, Autokraten, Diktatoren.
Ich wünsche ihm und seiner Familie, dass sie in England ein sicheres Leben führen dürfen.
👍