Die Jagd auf die Stimme der Hoffnung

VonRainer Hofmann

Mai 24, 2025

Jeanette Vizguerras Festnahme und der stille Putsch gegen das Menschenrecht.

Es begann mit einem Satz, gesprochen von einem ICE-Beamten vor einem Target-Supermarkt in der Nähe von Denver: „Wir haben dich endlich.“ Dieser Satz markiert nicht nur das abrupte Ende einer Mittagspause – sondern den Anfang eines neuen Kapitels politischer Einschüchterung in den Vereinigten Staaten. Die Festnahme von Jeanette Vizguerra, einer landesweit bekannten Einwanderungsaktivistin, ist mehr als ein administrativer Akt. Sie ist ein Symbol – für die Rückkehr einer Politik, die das Menschsein unter Verdacht stellt.

Jeanette Vizguerra ist kein Zufallsopfer. Sie ist Mutter. Kämpferin. Eine Frau, die seit 1997 ohne Papiere, aber mit ungebrochener Würde in den USA lebt. Die 2017 mit ihren drei Kindern in den Keller einer Kirche zog, um einer Abschiebung zu entgehen – und damit zum Gesicht eines Widerstands wurde, den die Trump-Regierung nie verziehen hat. Dass sie von Time Magazine zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gekürt wurde, war für viele ein Hoffnungsschimmer. Für andere offenbar ein rotes Tuch.

Nun wurde sie abgeführt. ICE rechtfertigt die Festnahme mit einem alten Gerichtsurteil und nennt sie eine „verurteilte kriminelle Ausländerin“. Doch hinter dieser Formulierung steckt nichts als kalter Zynismus. Denn Jeanette Vizguerra war nie eine Bedrohung – sie war ein Schutzschild. Für andere, für die Kinder, für jene, deren Stimmen leiser sind. Dass sie nun in einem ICE-Zentrum in Aurora, Colorado, festgehalten wird, ist ein Schock – aber kein Einzelfall.

Die Repression hat längst ein System. Die Festnahme von Vizguerra reiht sich ein in eine Welle von Übergriffen auf Menschen ohne Vorstrafen, ohne Gewalt, ohne andere „Vergehen“ als das, geblieben zu sein. Die Hälfte aller aktuell Inhaftierten in ICE-Gewahrsam hat keinen einzigen Eintrag im Strafregister. Und doch wird das Narrativ vom kriminellen Migranten mit aller Härte gepflegt – weil es gebraucht wird. Als Legitimation. Als Ablenkung. Als Einschüchterung.

Denn es sind nicht nur Jeanette Vizguerra oder Mahmoud Khalil, der palästinensische Aktivist mit gültiger Aufenthaltserlaubnis, der plötzlich als „Sicherheitsproblem“ gilt. Oder Badar Khan Suri, ein indischer Lehrbeauftragter an der Georgetown University, den man der „Hamas-Propaganda“ bezichtigt, weil seine Ehefrau palästinensische Wurzeln hat. Es sind auch Menschen wie Jasmine Mooney, eine kanadische Schauspielerin, die über ein Visaproblem stolperte – und sich zwölf Tage lang in Ketten wiederfand. Oder Dr. Rasha Alawieh, eine libanesische Ärztin mit gültigem Arbeitsvisum, die bei ihrer Ankunft in Boston direkt ins Flugzeug zurück verfrachtet wurde.

Die Botschaft ist klar: Es spielt keine Rolle mehr, ob du einen Antrag gestellt, einen Job, eine Familie oder ein Visum hast. Wenn du sichtbar bist – politisch, migrantisch, unbequem – bist du angreifbar.

In Colorado haben sich inzwischen Gouverneur Jared Polis, Bürgermeister Mike Johnston und Mitglieder des Kongresses klar positioniert. Johnston spricht von „Putin-artiger Verfolgung politischer Dissidenten“. Eine starke Formulierung – aber keine übertriebene. Denn das Muster ist bekannt: Wer laut ist, wird zum Ziel. Wer hilft, wird verdächtig. Und wer Widerstand leistet, wird gebrochen.

Das Weiße Haus schweigt. Das Heimatschutzministerium schweigt. Und während sie schweigen, wird ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen: Dass selbst jene, die jahrelang im öffentlichen Licht standen und durch offizielle Aufschübe geschützt waren, plötzlich ohne Vorwarnung abgeführt werden können.

Jeanette Vizguerra war nie die „Schlimmste der Schlimmen“. Sie war eine der Besten. Ihre Festnahme ist kein Versehen – sie ist Kalkül. Und wenn wir diesen Moment vorbeiziehen lassen wie eine weitere Nachricht im Feed, verlieren wir mehr als eine Aktivistin. Wir verlieren einen Maßstab für Gerechtigkeit.

Der Kampf um ihre Freilassung läuft. Die Klage ist eingereicht. Aber was auf dem Spiel steht, reicht weit über ihre Person hinaus. Es geht um die Frage, ob wir ein Land werden – oder bleiben –, in dem der Mut zur Menschlichkeit nicht kriminalisiert wird.

Jeanette Vizguerra kämpfte jahrelang für andere. Jetzt werden wir für sie kämpfen.

(Photo: Jason Connolly/Getty Images)

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