Der Fall Alexandrovich: Wenn Realität zur Verhandlungssache wird

VonRainer Hofmann

August 17, 2025

Ein hochrangiger israelischer Cybersicherheitsbeamter wird in Nevada verhaftet, die Anklage lautet auf versuchte sexuelle Ausbeutung eines Kindes. Gerichtsdokumente belegen die Festnahme, Polizeiakten dokumentieren die Kaution von 10.000 Dollar, sein Name prangt auf der Verhaftetenliste. Doch aus Jerusalem kommt eine andere Version: Der Mann sei lediglich befragt worden, von einer Festnahme könne keine Rede sein. Was hier geschieht, ist mehr als ein diplomatischer Zwischenfall – es ist ein Lehrstück über institutionelle Realitätsverweigerung.

Tom Artiom Alexandrovich, 38 Jahre alt, Leiter der Abteilung für technologische Verteidigung bei Israels National Cyber Directorate, einer Behörde, die direkt dem Büro des Premierministers untersteht. Ein Mann also, der Zugang zu sensiblen Informationen hat, der Israels digitale Infrastruktur schützen soll. Anfang August reist er zur Black Hat Konferenz nach Las Vegas, einer der weltweit wichtigsten Veranstaltungen für Cybersicherheit. Dort gerät er in eine verdeckte Polizeioperation: Ermittler geben sich online als Minderjährige aus, um Sexualstraftäter zu überführen. Alexandrovich ist einer von acht Männern, die in die Falle tappen.

Aktenzeichen: 25PCH000699-0000.
Sache: State of Nevada vs. Alexandrovich, Tom.
Status: OPEN, das Verfahren läuft.
Verfahrensart: Probable Cause HND, eine Vorprüfung des hinreichenden Tatverdachts mit Zuständigkeit in Henderson.
Eingangsdatum: 07.08.2025.
Maßnahme beziehungsweise Vorwurf: Anlocken oder Versuch des Anlockens eines Kindes oder einer psychisch kranken Person mittels Computer oder Internet, um zu sexuellen Handlungen zu verleiten.
Statusdatum: 07.08.2025.
Nächster Termin: 27.08.2025 (Wir werden anwesend sein)

Die Docket-Einträge lauten in chronologischer Reihenfolge wie folgt: Am 07.08.2025 wurde eine Kaution in Höhe von 10.000 Dollar als Sicherheitsleistung im Henderson Detention Center hinterlegt, noch vor der Probable-Cause-Prüfung. Am selben Tag wurde der Anklagepunkt eins eingetragen, nämlich das Anlocken beziehungsweise der Versuch des Anlockens eines Kindes oder einer psychisch kranken Person unter Nutzung von Computertechnologie zur Vornahme sexueller Handlungen. Ebenfalls am 07.08.2025 wurde ein Gerichtstermin angesetzt, Status: Einreichung oder Verlesung der Beschuldigung, mit Beginn um 09:00 Uhr im Department 3. Zusätzlich wurde die Gebühr für die Kautionsdokumente verbucht. Schließlich wurde am selben Tag die Entscheidung zur Vorprüfung des Tatverdachts vermerkt, mit Festsetzung der Kaution auf 10.000 Dollar, zahlbar entweder als Bargeld oder als Sicherheitsleistung.

Zur Einordnung: Probable Cause bedeutet die Vorprüfung, ob ein hinreichender Anfangsverdacht für die vorläufige Fortführung des Strafverfahrens besteht. Ein Surety Bond bezeichnet eine Kaution in Form einer Bürgschaft über einen Kautionsdienst oder Versicherer, sodass nicht zwingend eine Barzahlung erfolgen muss. Der Status OPEN zeigt an, dass das Verfahren anhängig ist und noch kein Schuldspruch vorliegt. Der nächste Termin am 27.08.2025 ist in der Regel die Vorführung oder Verlesung der Anklage beziehungsweise der nächste Verfahrensschritt.

Das Dokument belegt damit, dass in Nevada ein laufendes Strafverfahren existiert, dass eine Kaution in Höhe von 10.000 Dollar hinterlegt wurde, ein konkreter Anklagevorwurf vorliegt und ein Gerichtstermin angesetzt ist. Die Unschuldsvermutung gilt, solange kein Gericht eine andere Feststellung trifft.

Die Beweislage ist eindeutig. Das Henderson Detention Center verzeichnet seine Einlieferung. Das Gericht dokumentiert die Anklage: „Anlocken eines Kindes oder einer geistig beeinträchtigten Person mittels Computertechnologie zu sexuellen Handlungen“. Die Kaution wird hinterlegt, Alexandrovich kommt frei und verlässt umgehend die Vereinigten Staaten. Zwei Tage später landet er in Tel Aviv.

Die Mechanik der Verleugnung

Was dann folgt, offenbart ein verstörendes Muster. Das Büro von Premierminister Netanyahu veröffentlicht eine Stellungnahme, die die dokumentierte Realität schlicht negiert:

Der Mitarbeiter sei nicht verhaftet worden, sondern planmäßig nach Israel zurückgekehrt. Man spricht von einer „Befragung“, von einem Missverständnis ohne politische Implikationen.

Die National Cyber Directorate, konfrontiert mit den Gerichtsdokumenten, rudert später halbherzig zurück: Die ursprüngliche Stellungnahme sei „auf Basis der zur Verfügung gestellten Informationen korrekt“ gewesen. Alexandrovich befinde sich derzeit in „einvernehmlichem Urlaub“. Diese Reaktion ist bemerkenswert in ihrer Dreistigkeit. Hier wird nicht interpretiert oder relativiert – hier wird eine überprüfbare, dokumentierte Tatsache zur Verhandlungssache erklärt. Es ist, als würde man behaupten, es regne nicht, während das Wasser von den Dächern strömt.

Unter den Mitfestgenommenen befinden sich übrigens ein Pastor einer lokalen Kirchengemeinde, der unmittelbar nach seiner Freilassung zurücktrat, und ein ehemaliger Polizist aus Las Vegas. Sie alle glaubten, Minderjährige zu treffen, und trafen stattdessen auf Ermittler. Die Operation war Teil einer größeren Initiative zum Schutz von Kindern vor Online-Tätern, koordiniert von lokalen, bundesstaatlichen und föderalen Behörden.

Der Preis der Unglaubwürdigkeit

Was diese Episode so bedeutsam macht, geht weit über den Einzelfall hinaus. Wenn eine Regierung bereit ist, offensichtliche Fakten zu leugnen, wenn sie selbst bei überprüfbaren Sachverhalten zur Realitätsverzerrung greift – welche Glaubwürdigkeit besitzt sie dann noch in Fragen, die sich der unmittelbaren Überprüfung entziehen? Diese Frage erhält besondere Brisanz vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts, wo konkurrierende Narrative oft die einzige Währung sind, wo die Deutung von Ereignissen häufig wichtiger erscheint als die Ereignisse selbst. Wenn Jerusalem nicht einmal zugeben kann, dass ein eigener Beamter in Nevada verhaftet wurde – obwohl Gerichtsakten dies zweifelsfrei belegen –, wie sollen dann Aussagen über Sicherheitsbedrohungen, militärische Operationen, Personen oder diplomatische Initiativen bewertet werden?

Die reflexhafte Verleugnung wirft ein grelles Licht auf eine politische Kultur, in der die Kontrolle über die Erzählung wichtiger geworden ist als die Wahrheit selbst. Es ist diese Haltung, die internationale Partner verzweifeln lässt und Vertrauen systematisch untergräbt. Denn Glaubwürdigkeit ist keine unerschöpfliche Ressource – sie wird Aussage für Aussage, Dementi für Dementi aufgebraucht. Der Fall Alexandrovich mag in einigen Wochen vergessen sein. Die Fragen, die er aufwirft, bleiben: Wie viel Realitätsverweigerung verträgt eine Demokratie? Wie oft kann eine Regierung nachweisbare Fakten leugnen, bevor ihr niemand mehr glaubt – auch dann nicht, wenn sie die Wahrheit sagt? In Nevada wurde ein Mann verhaftet und gegen Kaution freigelassen. Diese simple Tatsache zu akzeptieren, sollte keine Herausforderung darstellen.

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Ela Gatto
Ela Gatto
1 Monat zuvor

Unglaublich.
Manchmal glaubt man USA ist ein Land der Pädophilen.
Ein Pastor, ein ehemalige Polizist.

Das liegt wohl an der Verteufelung von Sexualität durch die Erzkonsetvativen (Evangelikalen)
Alleine die Tatsache, dass diverse (rote) Bundesstaaten Ehen mit unter 18 jährigen, ja sogar von 14 Jährigen erlaubt.
Geseteskonforme Pädophilie 🤮

Aber das mit dem Israeli setzt dieser abartigen Pädophilie die Krone auf.

Jeder Verhaftete bekommt die Auflage die Stadt nicht zu verlassen.
Hier wird eine lächerlich Kaution von 10.000 $ festgesetzt. Obwohl keine Bindung zu dem Ort besteht und eine hohe Fluchtgefahr bestand.
Wieso war ewaning auf der No flight Liste, wieso konnte er unbehelligt nach Israel fliegen.

Da hat sicher Trump seine Finger im Spiel gehabt.
Wo Netanyahu ihn doch für den Friedensnobelpreis nominiert hat.
Und überhaupt, Sexualstraftäter unter sich.

Der wird ganz sicher nicht am 27.08. Zur Gerichtsverhandlung erscheinen.
Und sollte es jemals nötig sein, dass er in die USA Reisen muss, wird er das mit einem Diplomatenpass tun.

Ihr schaut aber genau hin und bleibt dran. Danke dafür

Stefanie Reichelt
Stefanie Reichelt
1 Monat zuvor

Ein super Lob an Euch. Das ist echter Journalismus, richtig klasse. So etwas findet man nur noch selten. Ich drücke die Daumen, dass ihr die verdiente Unterstützung auch bekommt, da wir solche Informationen benötigen um eine richtige Meinung zu erhalten. Ein mega grosses danke an den Kaizen Blog.

Sec
Sec
1 Monat zuvor

Wie viel muss eine Regierung wohl zu verbergen haben, wenn selbst solche leicht überprüfbaren Fakten reflexartig geleugnet werden? Ich bin gespannt, mit welch fadenscheinigen Begründungen dies Verfahren beendet wird, noch bevor es richtig angefangen hat.
Btw. gute Arbeit, wie immer  👍 

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