Es ist ein Bild, das wie aus einer anderen Welt wirkt: Während in Moskau Sanktionen und internationale Isolation die politische Elite der Putin-Ära umklammern, lebt Sergei Matwijenko, der Sohn der Vorsitzenden des Föderationsrates Valentina Matwijenko, zurückgezogen in einer Villa an der italienischen Adria.

Die „Zarina“ – Putins mächtigste Verbündete

Valentina Matwijenko, geboren 1949 in der ukrainischen Stadt Schepetiwka, ist weit mehr als nur eine Beamtin – sie ist Putins engste Vertraute und eine der mächtigsten Frauen Russlands. Als Vorsitzende des Föderationsrates bekleidet die 75-Jährige formal das dritthöchste Staatsamt der Russischen Föderation und ist automatisch Mitglied des einflussreichen Sicherheitsrates. Ihre politische Laufbahn begann in den 1980er Jahren als Parteifunktionärin der KPdSU in Leningrad, wo sie Putin bereits in dessen Frühzeit begegnete. Die Ironie ihrer Biografie ist bitter: Geboren in der Ukraine, wurde sie zu einer der vehementesten Befürworterinnen von Putins Angriffskrieg gegen ihr Geburtsland. Ihre Unterschrift steht auf jenem verhängnisvollen Dekret, das den russischen Streitkräften die Invasion der Ukraine genehmigte. In russischen Medien rechtfertigt sie den Krieg mit der Behauptung, die Ukraine habe sich zu einem „russlandfeindlichen Nazi-Staat“ entwickelt – eine zynische Geschichtsverdrehung aus dem Mund einer Frau, deren Eltern in eben jenem Land begraben liegen, das sie nun bombardieren lässt. Matwijenkos Aufstieg verlief parallel zu Putins Machtergreifung. Zunächst als Vizepremierministerin unter Boris Jelzin, dann als Botschafterin in Malta und Griechenland, schließlich als Gouverneurin von Sankt Petersburg – Putins Heimatstadt – baute sie systematisch ihr Machtnetzwerk aus. 2011 wurde sie zur Vorsitzenden des Föderationsrates gewählt, womit sie endgültig in den innersten Kreis des Putin-Systems aufstieg. Bereits 2014, unmittelbar nach der Annexion der Krim, landete sie auf den ersten US-Sanktionslisten – ein Zeichen ihrer zentralen Rolle in Putins aggressiver Außenpolitik.


Pesaro, eine beschauliche Küstenstadt mit langen Sandstränden und Blick auf die endlosen Wellen des Mittelmeers, ist zum stillen Rückzugsort eines Mannes geworden, der offiziell unter westlichen Sanktionen steht. Sergei Matwijenko hat den Großteil seines Vermögens diskret ins nahegelegene San Marino verschoben – in jenes winzige, unabhängige Fürstentum, das seit Jahrzehnten für seine intransparenten Finanzstrukturen bekannt ist.


Nach weiteren Recherchen besitzt Matwijenko eine italienische Steuernummer, obwohl er in Italien keinerlei Geschäfte betreibt. Sie dient allein dazu, seinen Wohnsitz und die damit verbundenen Bankdienstleistungen abzusichern. Das geht über „ich bin ein Schlingel“ weit hinaus. Dahinter spannt sich ein Geflecht aus Anwälten, Treuhändern und Finanzberatern, das formal legale Strukturen aufrechterhält, aber jede Transparenz meidet. San Marino, das erst 2015 alle Maßnahmen ergriff und umsetzte, um die Bekämpfung von Geldwäsche auf ein internationales Niveau zu bringen, nachdem Italien erheblichen Druck ausgeübt hatte, bot die perfekte Kulisse. Rund um die Provinz Pesaro e Urbino hat sich ein ganzes Netz aus Briefkastenfirmen, Treuhandkonstruktionen und Strohmännern gebildet, das es der Familie Matwijenko offenbar ermöglicht, westliche Sanktionen zu unterlaufen.
Villa M – Ein Oligarchen-Paradies im Naturschutzgebiet
Die Villa selbst erzählt eine eigene Geschichte. 2009 von Valentina Matwijenko persönlich für 7 Millionen Euro erworben, wurde sie später in eine italienische Stiftung namens Dominanta eingebracht – ein juristisches Konstrukt, das keinerlei wirtschaftliche Aktivitäten entfaltet und nur dazu dient, den Besitz zu halten. Die Villa war zuvor im Besitz von Tibor Rudas, dem ungarischen Impresario und Manager von Luciano Pavarotti, der die triumphalen Tourneen der Drei Tenöre (Carreras, Domingo, Pavarotti) erfand. Sie liegt nur 50 Meter von der Immobilie der Familie Pavarotti entfernt – eine Nachbarschaft, die symbolischer kaum sein könnte.



Auf dem rund 26 Hektar großen Anwesen thront ein dreigeschossiges Haus mit 774 Quadratmetern Wohnfläche, das die Anti-Korruptions-Stiftung (ACF) um Alexei Nawalny 2022 mit rund zehn Millionen Euro bewertete. Das Anwesen erstreckt sich über 650 Meter Küste und verfügt über eine Schwimmanlage von mindestens 20 Metern Länge. Am Eingangstor prangt stolz der Buchstabe „M“ für Matwijenko, daneben das Symbol der orthodoxen Kirche – eine diskrete, aber deutliche Machtdemonstration.

Offiziell lebt Sergei dort mit seiner Ehefrau Julia, einer ehemaligen Modellin und Unternehmerin, umgeben von Weinbergen, Olivenhainen und einem weiten Blick über die Hügel der Marken. Für Außenstehende wirkt die Idylle perfekt, doch hinter den Fassaden zieht sich ein Schatten aus verschleierten Finanzwegen und internationalen Sanktionen.
Die perfekte Tarnung: Stiftung Dominanta
Die Fondazione Dominanta, eine italienische Struktur, hat keine dokumentierte kulturelle, soziale oder öffentliche Aktivität. Keine dokumentierten kulturellen Aktivitäten, keine Spenden, keine zugänglichen Bilanzen. Sie erscheint als formal aktive, aber praktisch inhaltslose Entität, die ausschließlich zur Verwaltung der Immobilie dient. Ein juristisches Meisterwerk der Verschleierung, das formale Legalität mit praktischer Intransparenz verbindet.
2013 tätigte Sergei Matwijenko persönlich eine Spende für die Restaurierung des Geburtshauses des heiligen Franziskus in Assisi auf Initiative des damaligen Honorarkonsuls Armando Ginesi. Die Intervention wurde auf seinen Namen formalisiert, ohne die Vermittlung der Stiftung Dominanta. Es war ein öffentlicher Akt, gut sichtbar, nützlich zur Imagekorrektur und zur Etablierung einer ersten Form der kulturellen Legitimation auf italienischem Boden.

Das Netzwerk der Macht
Die Geschichte der Familie in Italien reicht tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Die Provinz Pesaro e Urbino registriert weiterhin eine anomal hohe Anzahl russischer Präsenzen im Vergleich zum nationalen Durchschnitt: Unternehmer, Fachkräfte, Satellitenunternehmen, die im Handel, im Bauwesen und in der Beratung tätig sind. Ein stilles, aber weitreichendes Netzwerk, das Schutz in Ämtern wie dem des Honorarkonsuls der Russischen Föderation in Ancona findet. Diese Position wird heute von Anwalt Marco Ginesi bekleidet, dem Erben des von seinem Vater Armando Ginesi aufgebauten Netzwerks, der 2022 verstarb. Er war es, der den Matwijenkos den Kauf der Villa vorschlug und den Eintritt des jungen Sergei in die örtlichen Kreise erleichterte. Die Gäste der Villa erzählen von einer anderen Zeit, als die Sanktionen noch fern schienen. Chef Lucio Pompili, der Inhaber des Symposium, einem der bekanntesten Restaurants der Provinz, hat viele Bankette in der Villa der Matwijenko betreut. „Ich bin sogar nach Sankt Petersburg gefahren, wo sie anlässlich des Madonna-Konzerts ein großes Empfang organisieren ließ“, erinnert er sich. Die Zarin trinkt Sassicaia und Tignanello.
Das San Marino-System
Schließlich setzte Italien San Marino erheblich unter Druck. So stand San Marino nun auf einer schwarzen Liste von Steueroasen. Außerdem erließ Italien eine allgemeine Amnestie für Steuersünder, kaufte gleichzeitig aber auch Steuerdaten italienischer Steuersünder auf, die ihre unversteuerten Schwarzgelder auf Bankkonten in San Marino geparkt hatten. Dies führte 2015 zu umfassenden Reformen, doch die Spuren alter Strukturen blieben bestehen. Laut Bankquellen und uns vorliegender Dokumentation wurden vor der Aktivierung der europäischen Sanktionen einige Fonds, Versicherungsinvestitionen und Kontokorrentkonten bei Instituten auf dem Monte Titano umgeschichtet. Das wahre strategische Zentrum des Matwijenko-Vermögens liegt nicht in Italien, sondern in San Marino – nur einen Steinwurf von Pesaro entfernt, aber rechtlich eine andere Welt.

Die gescheiterte Sanktionierung
Die italienischen Behörden stehen vor einem juristischen Dilemma. Guardia di Finanza und Staatsanwaltschaft haben den Fall untersucht, um die Villa zu versiegeln, die formal auf ein Unternehmen namens Dominanta eingetragen ist. An der Adria kamen italienische und ausländische Fernsehteams an. Die Verwalter der Villa wurden nervös. Eine Mediaset-Drohne, die über den Park der Russen flog, wurde durch ein Störsystem abgeschossen. Aber nach einigen Wochen des Aufsehens kehrte Ruhe ein. Nichts wurde mehr über die Beschlagnahme der Villa gehört, die mehrfach ventiliert, aber nie realisiert wurde. So kehrte Sergej Matwijenko in der zweiten Augusthälfte in die geliebte Familienresidenz zurück, um einen Urlaub mit einer kleinen Gruppe von Gästen zu verbringen.
Während 200.000 russische Bürger vor Putins Mobilmachung flohen, hatte Sergej Vladimirovich Matwijenko das Glück, das Land für einen Fünf-Sterne-Urlaub mit Leibwächtern und ohne Sorgen zu verlassen. In Italien sorgt der Fall inzwischen für politischen Druck. Senator Ivan Scalfarotto, ehemaliger Staatssekretär im Außenministerium und heutiger Senator der Republik Italien, reagierte umgehend auf die Enthüllungen und nannte die Zustände „unerträglich“. Auf X, vormals Twitter, schrieb er: „Unerträglich. Ich werde heute eine Anfrage an die Innen- und Außenminister stellen, um zu klären, wie es möglich ist, dass eine der höchsten russischen Politikerinnen in Italien eine Art Freizone, eine Art Extraterritorialität, genießt.“ Seine Worte fassen die wachsende Empörung zusammen. Matwijenko trat kürzlich in Genf bei einer mehrtägigen Versammlung von Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten der Interparlamentarischen Union (IPU) auf, obwohl sie auf Schweizer Sanktionslisten steht. Ein Affront, der das Versagen der Sanktionspolitik in ihrer ganzen Deutlichkeit offenbart. Nach Schätzungen haben 95 Prozent der klassischen Briefkastenfirmen einen kriminellen Hintergrund, wobei davon 70 Prozent auf organisierte Kriminalität und nur 20 Prozent auf Steuerbetrug entfallen sollen. Das grundsätzliche damit auch verbundene weltweite Offshore-Vermögen beträgt geschätzte 21 bis 32 Billionen US-Dollar. 2011 gehörte Sergey Matwijenko nach Angaben von Experten der Finanzpublikation zu den 500 inländischen Milliardären. Zu dieser Zeit wurde seine finanzielle Situation auf 4,9 Milliarden Dollar geschätzt. Ein Vermögen, das schwer vereinbar ist mit den offiziellen Einkünften einer Beamtenfamilie.
Das Schweigen der Behörden
Unsere wiederholten Anfragen bei den zuständigen italienischen Behörden und EU-Institutionen blieben bis heute unbeantwortet. Keine Stellungnahme zur gescheiterten Beschlagnahme, keine Erklärung für die fortdauernde Nutzung der Villa, kein Kommentar zu den offensichtlichen Schlupflöchern im Sanktionssystem. Diese Kommunikationsverweigerung offenbart ein systémisches Problem: Entweder fehlt den Behörden die Kompetenz, solche raffinierten Umgehungsstrukturen zu durchbrechen, oder es mangelt schlicht am politischen Willen.
Die Intransparenz, mit der EU-Kommission und italienische Ministerien auf konkrete Nachfragen zu diesem Fall reagieren, steht in krassem Gegensatz zu den vollmundigen Ankündigungen über die Wirksamkeit der Russland-Sanktionen. Während in Brüssel und Rom Erfolgsmeldungen über eingefrorene Oligarchen-Vermögen verkündet werden, residiert die Familie Matvienko ungestört in ihrer Adriavilla – ein lebendes Zeugnis für die Kluft zwischen politischer Rhetorik und administrativer Realität. Der Fall Matvienko wird so zur Chiffre für ein größeres Versagen: Europas Unfähigkeit, die eigenen Sanktionsinstrumente konsequent durchzusetzen. Ob aus mangelnder Sachkenntnis, bürokratischer Trägheit oder bewusster Nachsicht – das Ergebnis bleibt dasselbe. Der Salamander der Intransparenz schlängelt sich unbeirrt weiter, während die europäische Öffentlichkeit im Glauben gelassen wird, die Sanktionen würden wirken.
Die Villa mit dem „M“ am Tor steht als stilles Monument für das Versagen einer Sanktionspolitik, die auf dem Papier streng, in der Praxis aber zahnlos erscheint. San Marino, nur einen Blick von Pesaro entfernt, bietet weiterhin den perfekten Hafen für Vermögen, das eigentlich längst eingefroren sein sollte. In den Hügeln der Marken blüht ein Imperium, das offiziell nicht existieren dürfte – und doch jeden Sonnenuntergang über der Adria in vollen Zügen genießt.
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Sehr aufschlußreiche Recherche. Danke für die ganze Arbeit die ihr macht.
Das ist ja erschütternd….besonders wenn ich denke dass der schweizer Aussenminister dieser russischen Agentin die „Ausnahmebewilligung“ erteilte um in Genf auftreten zu können, wo sie ungeniert die russischen Lügen verbreitete….zum Ko…..!
Danke für die Aufklärung!
Was ist das für eine Welt? Danke für eure Aufklärung und Recherchen
Danke für diesen überaus fundierten Bericht.
Das sich diverse mächtige Oligarchen in der Schweiz, Malta und anderen Regionen aufhalten.
Aber das mitten in Europa ein derart großes russische Netzwerk besteht, ist erschreckend.
Und leider auch typischen für das lethargische Europa.
Und die Schweiz ist schon lange alles andere als neutral.
Zufall, dass sich alles im rechten Italien zuträgt?
Meloni hat gerade das Thema „Foltergeneral“ unbeschadet überstanden.
Da wird sich hier auch nichts tun.
Schließlich fließt Geld ….