Ein leerer Kühlschrank in einem vollen Land – Wie Russlands Inflation die Armen vernichtet und die Wahrheit verdunstet

VonRainer Hofmann

Juni 6, 2025

Sie sagen, alles sei unter Kontrolle. Die staatlichen Fernsehsender flimmern vor Zuversicht: Die Inflation sei gesunken, die Wirtschaft erholt sich, ausländische Firmen kehren zurück. Man müsse nur noch herausfinden, wer der Rückkehr würdig ist – dann, so versprechen sie, beginne eine neue goldene Ära. Doch wer in Russland heute vor einem Kühlschrank steht, sieht kein Comeback. Er sieht Leere.

Denn was die Kameras nicht zeigen: Zwiebeln kosten doppelt so viel wie noch vor einem Jahr, Kartoffeln sind zum Luxusgut geworden. Die Preise für Brot, Milch, Fisch, Gemüse – alles, was täglich auf dem Tisch der einfachen Leute landen soll – sind explodiert. Die offizielle Inflationsrate mag bei zehn Prozent liegen, doch sie erzählt nicht die ganze Wahrheit. Sie ist wie ein Durchschnittsfieber, gemessen über ein Krankenhaus voller Patienten – einer friert, der andere brennt. In Wahrheit gibt es zwei Inflationen: eine für die Reichen, eine für die Armen. Wer 20 Prozent seines Einkommens für Essen ausgibt, lebt in einer anderen Welt als jene, die 60 oder gar 70 Prozent dafür brauchen. Letztere nennt man laut UN „extreme Armut“. In Russland, einem der ungleichsten Länder der Welt, trifft diese Realität Millionen – in Moskau wie in Magnitogorsk.

Rosstat, die nationale Statistikbehörde, sagt: Alles in Ordnung. Aber Rosstat fragt nur die Großen. Kleine Geschäfte, Marktstände, Bäcker aus der Nachbarschaft – sie fehlen in den Berechnungen. Ihre Preise kennt die Statistik nicht, wohl aber jede Mutter mit leerem Portemonnaie. Und auch bei den Löhnen sieht es nicht besser aus: Offiziell steigen sie. Doch das gilt nur für Konzerne. Die Mechaniker in der Garage, die Näherin ohne Vertrag, der selbstständige Handwerker? Für Rosstat existieren sie nicht. Dabei machen sie längst über 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus.

Der wahre Grund für all das liegt nicht im Wetter, nicht im Markt, sondern im Krieg. Russland verschlingt fast ein Drittel seiner Staatseinnahmen für den Militärapparat. Die zivile Wirtschaft wird zur Nebensache, zur Randnotiz. Wer früher Fernseher baute, produziert jetzt Panzerteile. Wer einst Getreide exportierte, fälscht heute Bilanzen für die Sanktionsumgehung. Es fehlt an allem – nicht nur an Waren, sondern an Zukunft. Die Reichen bunkern ihr Geld in Sparkonten mit Traumzinsen. Die Armen nehmen Mikrokredite mit ruinösen Zinsen auf. Und beide Gruppen – so unterschiedlich sie sind – leben im Ausnahmezustand des Mangels. Unternehmen investieren nicht mehr in Neues, sondern nur noch in das Nötigste. Wie ein armer Mensch, der weiß, dass der nächste Tag nicht besser wird.

Die Zentralbank hält die Zinsen hoch, um Inflation zu bremsen. Doch sie kann nur den zivilen Konsum drosseln – nicht den Appetit des Krieges. Und so lebt das Land in einer Paradoxie: Die Industriepreise sinken, weil der Staat zahlt. Die Verbraucherpreise steigen, weil der Staat nicht liefert. Der Krieg ist das Zentrum der ökonomischen Gravitationskraft. Und wenn er enden sollte, dann nicht mit einem Aufatmen, sondern mit einem Beben. Denn dann kehren hunderttausende Soldaten heim – traumatisiert, ausgebildet an der Waffe, aber ohne Perspektive. Und dann schließt das Werk, das einst rund um die Uhr Drohnen zusammenschraubte. Die Männer stehen auf der Straße – ohne Job, ohne Richtung, aber mit Erfahrung im Töten.

Die Regierung weiß das. Deshalb verteilt sie Versprechen: kostenlose Studienplätze, Jobs im Staatsdienst, Privilegien für Kriegsteilnehmer. Doch es sind Pflaster auf geborstene Mauern. Die wahren Risse verlaufen tiefer: zwischen Veteranen und Zivilisten, zwischen Stadt und Land, zwischen den Realitäten.

Russlands Wirtschaft steht still, weil sie im Marschschritt gefangen ist. Und selbst wenn der Marsch endet, wird der Takt nicht sofort verklingen. Was bleibt, ist ein Land, das an seiner Rüstung erstickt – während im Kühlschrank die Kälte nichts mehr kühlt außer der Hoffnung.

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